Missbrauch. Ein Skandal in Deutschland

27. Januar 2015


„Fünf Jahre nach der Aufdeckung des Missbrauchsskandals in Deutschland“. So hebt ein Tagesschau-Bericht an, der über eine als „Bilanz“ angekündigte Stellungnahme des Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, informiert. „Fünf Jahre nach der Aufdeckung des Missbrauchsskandals in Deutschland“. Das hört sich so an, als sei erst mit den Enthüllungen durch den damaligen Direktor des Berliner Canisius-Kollegs, Klaus Mertes, bekannt geworden, dass es in Deutschland sexuellen Missbrauch gibt. Man könnte dann ja regelrecht froh sein, dass es Missbrauch auch in kirchlichen Einrichtungen gab und ein couragierter Jesuitenpater dies vor fünf Jahren zugegeben hat, sonst würden wir heute wohl immer noch nichts zum Thema Missbrauchsskandal in Deutschland erfahren haben, obwohl hierzulande jährlich weit über 100.000 Kinder und Jugendliche sexuellen Missbrauch erleiden und schätzungsweise jeder zehnte Erwachsene irgendwann in seinem Leben zum Opfer wurde. Den Anlass, überhaupt mal öffentlich über das Thema zu sprechen, hat tatsächlich diese Bekanntmachung vor fünf Jahren gegeben. Das ist auch ein Skandal.

Aber zurück zur Gegenwart, zurück zum Tagesschau-Text. Es ist erstaunlich, wie sehr das Thema immer noch katholisch gerahmt wird. Unauffällig und fließend geschieht im Text der Übergang von der Mertes-Pressekonferenz über die Person des Missbrauchsbeauftragten, der – das deuten „unabhängig“ und „Bundesregierung“ schon an – nicht nur für Fälle innerhalb kirchlicher Einrichtungen zuständig ist, hin zu dessen Urteil, „nur wenige Einrichtungen hätten umfassende Schutzkonzepte“ und es „mangele [..] nach wie vor an finanziell abgesicherten, spezialisierten Beratungsstellen und Therapieplätzen bei sexuellem Missbrauch“. In der Kirche? Nur in der Kirche? Der katholischen? Oder geht es ab jetzt um die Lage in Deutschland? Dass Johannes-Wilhelm Rörig ein unabhängiger Beauftragter der Bundesregierung ist, hat man bei all den katholischen Ankern („fünf Jahre“, „Canisius“, „Mertes“, „Missbrauchsfälle an kirchlichen Einrichtungen“, „katholische Schule“, „katholische Einrichtungen“) schon wieder vergessen. Und „schleppende Aufklärung“ muss ja auch „Kirche“ sein. Oder? Und selbst bei „Die Sensibilität in Kitas, Schulen, Kirchengemeinden und Sportvereinen sei gestiegen“ ist man nicht ganz sicher: Meint der Verfasser auch nicht-katholische „Kitas, Schulen, Kirchengemeinden und Sportvereine“? Meint er am Ende alle Kinder- und Jugendeinrichtungen in Deutschland? So richtig klar wird das nicht.

Es geht katholisch weiter und endet schließlich katholisch: „Die von der katholischen Kirche angebotene ‚Anerkennungsleistung‘ von bis zu 5000 Euro wird als völlig unzureichend kritisiert. In anderen Ländern wie Irland, den Niederlanden oder Portugal habe es Zahlungen bis 60.000 Euro gegeben.“ Das mag sein und darüber muss man auch reden. Verschwiegen wird jedoch, dass die KIrche in begründeten Einzelfällen auch deutlich mehr zu zahlen bereit ist, dass bereits 95 Prozent der 1500 Anträge positiv beschieden wurden (passt auch nicht so gut zum Image der Kirche als alles in alle Ewigkeit verschleppende Vertuschungsvereinigung) und dass die Odenwaldschule ihren Opfern nur 2000 Euro „Entschädigung“ zahlt bzw. zahlen will. Aber um Odenwald und andere Schulen geht es ja nicht. Es geht um die Kirche. Die katholische. Jedenfalls erweckt die Tagesschau genau diesen Eindruck, der sich eher noch verstärkt, wenn kursorisch auch andere Institutionen benannt werden. Die Evangelische Kirche zum Beispiel.

Der unabhängige Beauftragte der Bundesregierung ist sich seiner überinstitutionellen Funktion und der Problematik des sexuellen Missbrauchs als gesamtgesellschaftlichem Skandal sehr wohl bewusst. Er spricht von Deutschland. Gegenüber dem Domradio erinnert er an die erschreckenden Dimensionen des Missbrauchs und kündigt für das kommende Jahr die Bildung einer „unabhängige[n] Kommission zur Aufarbeitung von sexuellem Kindesmissbrauch in Deutschland“ an. Im Domradio erfährt man auch, dass Johannes-Wilhelm Rörig seine Einschätzung anlässlich eines Kinderschutzkongresses in Köln vornahm, bei dem es vor allem um Schutzkonzepte für Schulen ging, die in den letzten Jahren verbessert worden seien. Prävention dürfe jedoch kein „Sonderprojekt“, sondern müsse eine „Daueraufgabe im Schulalltag“ sein. Einige, gerade auch katholische Schulen hätten das verstanden, andere noch nicht. Solange nicht alle Handlungsmöglichkeiten ausgeschöpft seien, bleibe der sexuelle Missbrauch „weiterhin ein Skandal in Deutschland“, so Rörig.

Beim Ausschöpfen der Handlungsmöglichkeiten müssen alle zusammenarbeiten: der Staat, die Kirchen, die Sportverbände, die Veranstalter von Kinderfreizeiten und Jugendreisen, die Anbieter von Töpfer- und Bastelwerkstätten, die Inhaber von Tanz- und Musikschulen, Verkehrsbetriebe und Bademeister. Alle. Aber selbst damit wird man 80 Prozent aller Missbrauchstaten nicht verhindern können, weil sie in den Familien stattfinden. Hier muss zusätzlich in schulischer und außerschulischer Bildung  darauf hingearbeitet werden, dass das Reden über Missbrauch möglich wird. Dazu braucht es in der Tat jene eingangs erwähnten „finanziell abgesicherten, spezialisierten Beratungsstellen und Therapieplätze“, die heute noch fehlen.

Könnte es sein, dass sie auch deswegen fehlen, weil man das Problem immer noch zu sehr als ein katholisches begreift? Nicht auf Seiten der Experten, aber vielleicht doch auf Seiten der Rezipienten? Wer die Kommentare unter dem Tagesschau-Bericht liest, kann diesen Eindruck bekommen. Es geht – die Leserschaft folgt da dem Tenor des Gelesenen – ausschließlich um die Katholische Kirche, die den sexuellen Missbrauch in Gänze zu verantworten habe und darum auch in Gänze dafür zahlen müsse. Auch die Einrichtung von „Beratungsstellen und Therapieplätze“ möge doch bitte vom Vatikan übernommen werden („Wäre doch der richtige Job für den Vatikan, derartige Hilfsprojekte an den Tatorten einzurichten. Wenigstens das“ – ein Kommentator), koste es, was es wolle – für die Kirche ohnehin nur Erdnüsse („Es wird Zeit, dass im Vatikan das Tafelsilber unter den Hammer kommt.“ – ein anderer Kommentator). Selbst wenn man die allgemeine Lust an der Häme und den speziellen Frust, Tagesschau-Kommentator zu sein, einmal abzieht: Wer so denkt (und das scheinen ja einige Menschen zu sein), wird kaum einer Hilfseinrichtung Geld spenden, wenn diese durch eigene „Beratungsstellen und Therapieplätze“ die Kirche aus der Pflicht nimmt. Nein, das soll mal schön der Papst alleine machen! Und solange der Vatikan und Tebartz-van Elst auf Milliarden sitzen, muss ich nichts spenden! Zudem geht es in der antikirchlichen Grundstimmung viel mehr um die wirkungsvolle Bestrafung der Täter als um eine wirkungsvolle Hilfe für die Opfer. Die Familie als Tatort fällt in diesem strikt fokussierten Bewusstsein ebenfalls aus. Diesen Umstand können Erziehungswissenschaftlerinnen „kritisieren“, wie sie wollen. Es bleibt dabei: Tatort ist der Beichtstuhl.

„Ich bin’s nicht, der Papst ist es gewesen!“ – In diesem Klima ist Missbrauch als gesellschaftliches Problem, an dessen Lösung wir alle nach Kräften mitarbeiten müssen, nicht vermittelbar. „Fünf Jahre nach der Aufdeckung des Missbrauchsskandals in Deutschland“. Auch das ist ein Skandal.

(Josef Bordat)

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