Was kostet der Mensch?

8. April 2015


Nachdem der Verlauf der Ereignisse weitgehend rekonstruiert wurde, rückt die Frage, welche Entschädigungssumme den Hinterbliebenen des Absturzes der Germanwings-Maschine am 24. März in Südfrankreich zukommt, in den Fokus der Betrachtung. Offenbar gibt es hier große Unterschiede, abhängig von der Staatsangehörigkeit des Opfers. Die Frage, die sich mir dabei stellt: Kann man die Frage Was kostet der Mensch? überhaupt beantworten? Kann man einen „fairen“ Wert bestimmen? Und wenn ja, wie? Antworten kommen aus der Ökonomie. Kritik an der Fragestellung kommt aus der Philosophie und von den drei abrahamitischen Religionen.

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1. Wenn Ökonomen den „Preis“ des Menschen bestimmen wird, reden sie nie über einen konkreten Menschen mit Gesicht und Biographie. Sie sprechen vom „Wert eines statistischen Lebens“ (WSL). Wir rechnen also nicht – um mit Kant zu sprechen – den homo phaenomenon oder den homo noumenon ab, sondern bilden einen „homo statisticon“, der abstrakt genug ist, um die Pietät zu wahren, der jedoch konkret genug ist, um mit ihm kalkulieren zu können, etwa die Maximalkosten einer Schutzmaßnahme.

Die Preise für den WSL sind sowohl hinsichtlich des jeweils angewandten Verfahrens als auch in Bezug auf die Untersuchungsregion und die sozialen Merkmale der zugrundeliegenden konkreten Menschenleben höchst unterschiedlich. Hannes Spengler nennt in seiner Studie Kompensatorische Lohndifferentiale und der Wert eines statistischen Lebens in Deutschland einen WSL-Mittelwert von 4,5 Millionen Euro für Deutschland und für die USA von 7 Millionen Euro. Zugleich berechnet er selbst einen Mittelwert von 1,65 Millionen Euro für einen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und weist auf einen Unterschied bezüglich des Geschlechts hin: bei einem Mann beträgt der WSL 1,72 Millionen Euro, für eine Frau von 1,43 Millionen Euro – sowohl die Einkommensdifferenzen als auch die höhere Risikoaversion weiblicher Arbeitnehmer wirkt sich hier auf den je unterschiedlichen WSL aus.

Auch die Hautfarbe kann zu Unterschieden führen, wie eine US-Studie mit dem Titel Racial Differences in Labor Market. Values of a Statistical Life (2003) offenbart, die das Leben eines weißen Arbeitnehmers doppelt so hoch bewertet wie das eines schwarzen Arbeitnehmers. Noch größere Differenzen zeigen sich in Umfragen, die auf die Zahlungsbereitschaft von Menschen abheben, tödliche Risiken von der Gemeinschaft abzuwenden, von denen sie nur mit einer bestimmten, sehr geringen Wahrscheinlichkeit selbst betroffen wären, oder die ganz konkret danach fragen, wie viel einem Menschen die Aufopferung eines Lebensjahres wert wäre bzw. umgekehrt, wie viel Lebenszeit sie für 1 Million Euro hergeben würden.

Andrea M. Leiter, Magdalena Thöni und Hannes Winner analysieren in Der „Wert“ des Menschen. Eine ökonomische Betrachtung (2010) fünf verschiedene WSL-Studien aus dem Zeitraum von 1986 bis 2007 und ermitteln so Werte zwischen 1,7 und 7,4 Millionen Euro; sie selbst kommen auf der Basis von Schmerzensgeldzahlungen auf durchschnittlich 1,7 Millionen Euro, bei einem Minimum von 0,6 und einem Maximum von 5,3 Millionen Euro. Sie summieren dabei die zugesprochenen Entschädigungen für den Verlust von Gliedmaßen und Organen auf, bis hin zu einem funktionsfähigen Körper.

Noch einen Schritt weiter in Richtung einer rein materialistischen Bewertung geht eine Analyse der Einzelpreise menschlicher Körpersubstanzen auf der molekularen Ebene. Der Biochemiker Harold J. Morowitz berechnet für den durchschnittlichen Menschen von 75 Kilo und knapp 25 Kilo Trockenmasse einschließlich wertvoller Enzyme und Peptide einen Katalogpreis von 6 Millionen Dollar.

Der Wiener Kabarettisten Georg Franz Kreisler ließ sich in den 1950er Jahren vom Institut für Gerichtsmedizin in Wien errechnen, wie hoch der Materialwert eines Menschen sei. Das Institut kam damals auf eine Summe von 40 Schilling, schloss aber seine Antwort mit folgender Bemerkung: „In diesen Zahlenangaben sind die Herstellungskosten des Menschen nicht enthalten.“

2. Das führt mich zurück zu Kant. Dieser meint in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, der Mensch habe „einen innern Wert, d. i. Würde“, was seine Bewertung und Verpreisung ausschließt, denn: „Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“ So wie der Mensch. Denn: Welches Äquivalent gäbe es wohl für einen Menschen?

Im Judentum und im Islam, die man für diese Frage zusammen behandeln kann, ist der schier unendliche Wert des Menschen ein unhintergehbares Postulat der religiösen Anthropologie. Im Talmud (Sanhedrin, 37a) finden wir: „Nur für diesen Zweck wurde der Mensch erschaffen: Zu lehren, wer eine einzige Seele zerstört, zerstört die ganze Welt. Und wer eine einzige Seele rettet, rettet die ganze Welt.“ Und im Koran (5:32) steht: „Wer einen Menschen tötet, für den soll es sein, als habe er die ganze Menschheit getötet. Und wer einen Menschen rettet, für den soll es sein, als habe er die ganze Welt gerettet.“ Ein Menschenleben entspricht hier der Menschheit, der Welt, dem Ganzen. Auch hier wird ein Vergleich angestellt, der den Wert eines Menschen bestimmt, doch ist dieser nicht in Geldeinheiten auszudrücken, sondern unermesslich hoch.

Die christliche Philosophie geht einen etwas anderen Weg, kommt aber zu einem ähnlichen Ergebnis. Sie verleiht dem Menschen – und das war völlig neu, als dieser Gedanke im Zuge der Ethik Jesu auftrat – eine unveräußerliche dignitas humana, die sich direkt aus der Geschöpflichkeit und Gottebenbildlichkeit des Menschen ergibt und in der Menschwerdung Gottes eine besondere Pointe erfährt. Als Abbild des personalen Gottes ist dem Menschen personale Würde verliehen. In Christus bekräftigt Gott diese Würde des Menschen durch die größtmögliche Zuwendung des Schöpfers zum Geschöpf. Gottebenbildlichkeit ist also keine Eigenschaft des Menschen, sondern seine Essenz. Sie besteht nicht in etwas, das der Mensch ist, sondern sie besteht, indem der Mensch ist. Damit ist die Würde des Menschen unveräußerlich, nicht von ihm zu trennen, weil die Gottebenbildlichkeit nicht von ihm zu trennen ist. Zugleich ist seine Würde eine dignitas aliena (Luther), eine „fremde Würde“, denn sie kommt von Gott. Auch das macht sie und damit den Menschen unermesslich.

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Was kostet der Mensch? Die Antworten mögen unterschiedlich ausfallen, Gerichte in den USA, in Frankreich, in Spanien, in Deutschland mögen unterschiedliche Entschädigungssummen für die Hinterbliebenen festlegen. Fest steht indes, dass nur eine Antwort über alle kulturellen und rechtlichen Differenzen erhaben ist: unendlich viel mehr als wir uns überhaupt nur vorzustellen vermögen.

(Josef Bordat)

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