Ich hatte ja vor einigen Wochen referiert, woher er kommt. Auch im Interview mit Radio Horeb im Rahmen der Sendereihe Faktencheck Kirchengeschichte (4. Teil: Hexen und Zauberer) war er am Ende Thema: der „Neun-Millionen-Mythos“.

Entstanden Ende des 18. Jahrhunderts in der Preußischen Aufklärung (zu den Hintergründen), wurde der „Neun-Millionen-Mythos“ rund 100 Jahre später im Kulturkampf geradezu dankbar aufgenommen. Obwohl Fachhistoriker Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts äußerst skeptisch angesichts der Zahlen waren, die Voigt ermittelt hatte, finden Angaben wie „mehrere Millionen“ oder „eine Million mag nicht zu hoch gegriffen sein“ Eingang in protestantische Kompendien und Lexika und bildeten so den Wissensbestand des preußischen Bildungsbürgertums. Ziel war es, die Katholische Kirche zu diskreditieren und ihre Stellung in Preußen zu schwächen.

Dann wurde der „Neun-Millionen-Mythos“ von der antiklerikalen Nazi-Propaganda ausgeschlachtet. Alfred Rosenberg, einer der „Vordenker“ des Nationalsozialismus und Chefredakteur des NSDAP-Blatts Völkischer Beobachter, aktualisiert das antikatholische „Argument“ der Aufklärung und des Kulturkampfs für die Zwecke der NS-Diktatur, indem er nicht nur davon spricht, dass dem Hexenwahn „Millionen zum Opfer gefallen sind“, sondern indem er behauptet, die Katholische Kirche sei jederzeit zur Fortsetzung der Hexenverfolgung bereit, wenn man ihr nur die Möglichkeit dazu einräume.

So schreibt Rosenberg in Der Mythus des 20. Jahrhunderts (1930), dass der Hexenwahn „nicht mit dem ‚Hexenhammer‘ ausgestorben“ sei (zum Verhältnis des ‚Hexenhammers‘ zur Katholischen Kirche bzw. des Hexenglaubens zur katholischen Lehre vgl. den Überblicksartikel Hexen), sondern „in der kirchlichen Literatur von heute noch lustig weiterlebt, jeden Tag bereit, offen hervorzubrechen“. Zu behaupten, die Scheiterhaufen würden sofort wieder brennen, wenn man den Druck des Regimes von der Kirche nehme, sollte freilich diesen Druck rechtfertigen und die Notwendigkeit eines harten nationalsozialistischen Kirchenkampfs belegen.

Über den Kulturkampf und die NS-Propaganda hinaus hat sich der „Neun-Millionen-Mythos“ bis in die Gegenwart gehalten, getragen insbesondere von Neopaganismus und Feminismus, popularisiert durch den (in Deutschland) traditionell anti-katholischen Sensationsjournalismus. In feministischen „Fachbüchern“ werden insbesondere ab den 1970er Jahren Opferzahlen von bis zu 13 Millionen genannt, gerne untermauert durch (zumindest grob fahrlässige) Formulierungen der Art „nach neusten Erkenntnissen“.

Große deutsche Publikumsmagazine greifen die absurden Zahlen aus Kultur- und Kirchenkampf kritiklos auf, ohne sich an den Ergebnissen der historischen Forschung zu stören. Durch Artikel von Ingrid Kolb im Magazin Stern erhielt der „Neun-Millionen-Mythos“ 1982 neuen Auftrieb und wird in den 1980er und 1990er Jahren weiter tradiert, auch, nachdem zahlreiche historische Forschungsarbeiten den „Neun-Millionen-Mythos“ restlos widerlegt hatten. Den Höhepunkt erreichen die Angaben zu den Opferzahlen in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung aus dem Jahr 1987, in dem zu lesen ist, es habe „zwischen sechs und 18 Millionen“ Opfer gegeben („wie man heute[sic!] schätzt“ – also 1987, in dem Jahr, in dem der Historiker Brian P. Levack 60.000 Opfer als Obergrenze angibt), und zwar „fast ausschließlich Frauen“.

Selbst im 21. Jahrhundert findet sich in deutschen Publikumsmagazinen bei Thema Hexenverfolgung kaum ein Widerhall der Geschichtswissenschaft. Das Magazin Focus bringt noch im Jahr 2002 die Opferschätzung „von 100.000 bis zu mehreren Millionen“, während der Spiegel ein Jahr zuvor eine „500 Jahre andauernde Hexenverbrennung“ phantasierte, deren Ursache der „perverse Ungeist der Inquisition“ gewesen sei und die – wiederum ein Jahr zuvor im Spiegel nachzulesen – „über eine Million“ Opfer gezeitigt habe, diesmal wegen der „Frauenfeindlichkeit der Kirche“ (gemeint ist die katholische, welche auch sonst).

Der Feminismus sorgte übrigens nicht nur für die Revitalisierung des Voigt-Rosenbergschen „Neun-Millionen-Mythos“, sondern auch für einen neuen Ansatz in der Ursachenforschung. Der „Gynozid“ wird zum Deutungsmuster der Hexenverfolgung, obgleich mindestens ein Viertel der Opfer Männer waren (Zauberer, „Hexenmeister“), regional waren sie sogar in der Mehrheit. Dennoch: Es sei im Rahmen der Hexen- und Zaubererverfolgung darum gegangen, die Verbreitung eines angeblich geheimen Verhütungswissens der als Hebammen tätigen Frauen zu verhindern, um das erforderliche Bevölkerungswachstum in den sich neu bildenden Fürstenstaaten Mitteleuropas zu gewährleisten. Die „Vernichtung weiser Frauen“ als Ziel der Verfolgung – diese Interpretation darf mit Wolfgang Behringer als feministische „Verschwörungsvorstellung“ verworfen werden.

Was lehrt uns das? Dass die Ergebnisse akademischer Diskurse nur sehr langsam in die allgemeine Publizistik durchsickern? Das auch. Obwohl es ja in anderen Bereichen schon ganz gut klappt, die Sache mit dem Wissenschaftsjournalismus. In der Hirnforschung etwa. Mancher Neurobiologe wundert sich, wie schnell seine These in der Zeitung zu finden ist, oft in devoter Überschätzung ihrer Reichweite. Passt ja auch viel besser zum Geist der Zeit (und daher einer Zeitung, die gekauft werden soll) als die Atomisierung einer liebgewonnenen Denkschablone die Kirche betreffend.

Die erste bekannte Schätzung der Opfer des Hexenwahns wurde übrigens im Jahr 1768 vorgenommen – also 15 Jahre vor der berühmt-berüchtigten Hochrechnung Voigts. Darin heißt es, es seien „30.000 theils Hexen, theils Hexenmeister zum Scheiterhaufen verdammt worden“. Das liegt recht nah am heutigen Forschungsstand (40.000 bis 50.000 Opfer) bzw. entspricht genau Behringers Untergrenze. Die Schätzung stammt von Jakob Anton Kollmann. Dass man sie fast ein Vierteljahrtausend lang nahezu komplett ignoriert hat, muss einen Grund haben. Hat es auch: Kollmann war Pfarrer. Katholischer.

(Josef Bordat)