Die Käßmann-Gesellschaft

14. Februar 2011


Es machte in der Blogozese schon die Runde: Die frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Margot Käßmann, erhält für ihren Rücktritt nach einer „betrunkenen Autofahrt“ (Der Spiegel) den „Europäischen Kulturpreis für Zivilcourage“. Wohlgemerkt: Für ihren Rücktritt, nicht für das widerrechtliche Führen eines Fahrzeugs unter Alkoholeinfluss (ich finde „betrunken“ als Attribut von „Autofahrt“ eine Beleidigung gegenüber Auto und Fahrt; „Sauftour“ hingegen wäre missverständlich). Doch der Konnex ist da: Alkohol trinken, Auto fahren, sich erwischen lassen, zurücktreten, Preis bekommen. So kann’s gehn, Zivilcourage 2010. Alipius spricht in diesem Sinne von einer „Promillefahrt ins Glück“.

Mir war schon klar, dass es für die Beurteilung von unerlaubtem Verhalten erhebliche Vorteile hat, wenn man als Bischof evangelisch ist und eine Frau (und nicht etwa katholisch und ein Mann), aber dass Margot Käßmann für eine Selbstverständlichkeit wie ihren Rücktritt nach der „Alkoholfahrt“ mit einem Preis geehrt wird, der eigentlich Menschen zusteht, die sich in der U-Bahn schützend vor ein belästigtes junges Mädchen oder einen bepöbelten alten Mann stellen, die sich in Sachen Menschenwürde nicht den Mund verbieten lassen, auch wenn es ihnen Häme einträgt, die zu Ihrem Chef „Nein!“ sagen – koste es auch den Job! –, wenn es darum geht, ein krummes Ding zu decken, das, meine lieben Juroren der „Kulturstiftung Pro Europa“, ist bei näherer Betrachtung ein schlechter Scherz.

Bei noch näherer Betrachtung stellt man allerdings fest (ich muss sagen: mit Erschrecken), dass die Entscheidung der Jury auf einer Linie liegt mit dem relativistischen Verständnis von Moralität, das in unseren Tagen herrscht. Was heute in der Gesellschaft zählt, ist nicht Güte (dazu bräuchten wir Einigkeit hinsichtlich des Begriffs „gut“, die haben wir aber nicht), sondern Authentizität, ist nicht Wahrheit (denn was „wahr“ ist, wissen wir ja nicht oder wollen es nicht wissen), sondern Stimmigkeit, ist nicht Verbindlichkeit (mit was soll man verbunden sein, wenn es das Gute und Wahre nicht gibt?), sondern Individualität.

Mit sich im Einklang sein, mit sich im Reinen sein, das ist es, was moralistische Bewunderung hervorruft. „I did it my way!“ ist das Maximum an Ethos, das in einer allzu offenen Gesellschaft zu er- und zu verlangen ist. Tenor: Man kann machen was man will, man muss es nur „für sich“ als „richtig“ erkannt haben und darf sich nicht erwischen lassen, falls das „Richtige“ justiziabel ist (Borniertheit gibt es halt überall!). Wird man erwischt, muss man nur dazu stehen. Wer „für sich“ das „Richtige“ getan hat, kann ja so schlecht nicht sein.

„So ist sie/er halt!“, sagen dann die Leute und sind stolz ob soviel Eigenständigkeit in der Wahl der Option. Und: So ist es halt, wenn man keine objektiven, absoluten Wertmaßstäbe mehr kennt, an denen man das Verhalten eines jeden Menschen spiegeln kann, sondern nur noch subjektivistisch-situativ mit der Gemeinschaft ausgehandelte Selbstverpflichtungen des Individuums, partikularistische Gesellschaftsverträge, jederzeit kündbar. Fristlos. Alles andere wäre Rigorismus.

Wer ein öffentliches Amt bekleidet und insoweit unter der Bedingung öffentlicher Aufmerksamkeit lebt, wie die Bischöfinnen und Bischöfe, kann auch machen, was sie/er will, sie/er muss im Falle des Falles allerdings die Kunst der medienwirksamen Entschuldigung beherrschen, die Verantwortung übernehmen und die Konsequenzen ziehen. Wahrscheinlich bekommt man den theatralischen Abgang in der Management-Drama-Gruppe von arbeitslosen Schauspielern eingebläut.

Freilich: Vergebungsbereitschaft ist eine wichtige christliche Tugend. Das gilt auch für Frau Käßmann. Ihr noch jahrelang mit der „Alkoholfahrt“ nachzusetzen, wäre falsch. Und – damit wir uns recht verstehen: Ich gönne Frau Käßmann alle Preise dieser Welt. Einzig: Für Menschen, die wirklich Zivilcourage zeigen – und zwar dauernd – ist dieser Vorgang eine Verhöhnung, die ihresgleichen sucht, vergeblich sucht.

Man kann sich die Preise, die man bekommt, nicht aussuchen. Das ist wahr. Doch für die Menschen mit wirklicher Zivilcourage kann man nur hoffen, dass Frau Käßmann mal wieder eine Konsequenz zieht, ganz ruhig diesmal, ganz gelassen, ohne großes Aufsehen zu erregen, eine, die mir etwas mehr Respekt abnötigt als ein Rücktritt nach einer Straftat und tagelangem öffentlichen Druck: diesen Preis abzulehnen. Eine formlose Mail reicht.

(Josef Bordat)

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