Religionsfreiheit. Opfer einer Güterabwägung

26. Juni 2012


Das Landgericht Köln verbietet die Beschneidung als „Körperverletzung“. Das Grundrecht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit überwiege das Grundrechte der Eltern, ihre Religion auszuüben und an die Kinder weiterzugeben, so heißt es in der Begründung. Der Zentralrat der Juden in Deutschland wertet dies als „einen beispiellosen und dramatischen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften“.

Die Beschneidung ist für Juden und Moslems ein wichtiger Bestandteil ihrer religiösen Identität. Es ist also, wie der Kollege vom B-Logos es schreibt, in der Tat ein „schwerer Eingriff in die Religionsausübung“. Und damit ein Eingriff in die Religionsfreiheit, die ja eine Religionsausübungsfreiheit ist.

Das Landgericht Köln hat daher meiner Ansicht nach ein Fehlurteil gesprochen. Dass es die Religionsausübung von Moslems und Juden so gering schätzt, wird der Bedeutung der Religionsfreiheit nicht gerecht. Religionsfreiheit ist ein Menschenrecht – nicht nur das, sondern auch ein zentrales, elementares und – bezogen auf die Genese der Menschenrechtsidee – ursprüngliches Menschenrecht.

Christliches Gedankengut zeigt sich im Kontext der liberalen Menschenrechte in der Entwicklung, dem Wesen und dem Geltungsanspruch dessen, was als Freiheit von staatlicher Allmacht definiert wird. Es zeigt sich in Leib- und Lebensrechten, wie etwa im Folterverbot, und es liegt Freiheits- und Gleichheitsrechten zugrunde. Die vielen Freiheiten in Politik, Wissenschaft, Medien und Kunst, das macht ein Blick in die Entwicklungsgeschichte der Menschenrechtsidee deutlich, gründen auf der einen elementaren Freiheit, der Religionsfreiheit. Dies lässt sich historisch zurückverfolgen bis zum Exodus des jüdischen Volkes, in der sich die erste kollektive Freiheitsbewegung der Geschichte manifestiert, deren Motiv auch in der religiösen Integrität der Israeliten liegt.

Die Verdichtung und Konkretisierung des Menschenrechtsgedankens wird auch und gerade von den Glaubenskonflikten des 16. und der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts geprägt, begründet die Auseinandersetzung um den „wahren“ Glauben doch einen tief in breite Bevölkerungsschichten wirkenden Widerstandsethos („Protestantismus“). In der Rechtsfigur der Gewissens- und Religionsfreiheit erwächst die entscheidende Triebfeder der menschenrechtlichen Entwicklung.

Selbstredend ist es v.a. die Kirche, die in der Religionsfreiheit „die Grundlage aller Menschenrechte“[1] sieht und den Staat zur Wahrung „des grundlegendsten Rechts“[2] in die Pflicht nimmt. Aber nicht nur die Kirche sieht das Verhältnis von Religionsfreiheit und Menschenrechten so. Die Annahme, Religionsfreiheit sei „Fundament aller menschlichen Freiheiten“ wird in der weltlichen Rechtstheorie damit begründet, dass sie „lebensspendend“ sei,[3] was Jellinek, den „Altmeister der deutschen Staatsrechtslehre“[4], die These aufstellen ließ, dass die Religionsfreiheit der Durchsetzung aller anderen Freiheiten vorausgegangen sei: die Religionsfreiheit sei „das Ursprungsrecht der verfassungsmäßig gewährten Grundrechte“[5]. Und schließlich ist es der Marxist Bloch, der sagt: „Die Bedeutung der Glaubensfreiheit kann daran gemessen werden, daß in ihr der erste Keim zur Erklärung der übrigen Menschenrechte enthalten ist“[6].

Ringen um Freiheit war und ist also zunächst das Ringen um Religionsfreiheit. Angesichts dieses ideenhistorischen Befundes müssen alle Versuche, die Religionsfreiheit als Menschenrecht zu relativieren, jeden Menschen aufschrecken, dem es um sein Recht geht.

Das Landgericht Köln ficht das nicht an. Die Medien zeigen sich größtenteils ungerührt. Umso mehr sollten wir aufmerken, als Katholiken, als Christen, als gläubige Menschen. Es geht nicht darum, wer betroffen ist, sondern was: Die Freiheit der Religionsausübung. Wollen wir, dass sie morgen noch ernst genommen wird, müssen wir uns für sie einsetzen. Heute.

Anmerkungen:

[1] Schotte: Die Religionsfreiheit als Menschenrecht im Gedankengut von Papst Johannes Paul II. In: Gewissen und Freiheit. 2. Hj., Nr. 25 (1985), S. 67.

[2] So hat Papst Johannes Paul II. die Religionsfreiheit am 10.3.1984 in einer Ansprache zum Thema „Die Grundrechte des Menschen und die Religionsfreiheit“ anlässlich des 5. Internationalen Juristischen Kolloquiums der Lateranuniversität genannt. Vgl. Schotte: S. 68.

[3] Blum: Religionsfreiheit als fundamentaler Bestandteil menschlicher Grundfreiheiten. In: Grulich, R. (Hrsg.): Religions- und Glaubensfreiheit als Menschenrechte. Schriftenreihe der Ackermann-Gemeinde, Nr. 30 (1980), S. 34.

[4] Kimminich: Religionsfreiheit als Menschenrecht. Untersuchungen zum gegenwärtigen Stand des Völkerrechts. Mainz / München 1990, S. 81.

[5] Jellinek: Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte. München 1895, S. 1. Gegen Jellineks Darstellung der historischen Zusammenhänge – nicht gegen die rechts-dogmatische Begründung der zentralen Bedeutung der Religionsfreiheit in der Menschenrechtssystematik überhaupt – wendet sich Maier: Religionsfreiheit in den staatlichen Verfassungen. In: Rahner et al.: Religionsfreiheit. Ein Problem für Staat und Kirche. München 1966, S. 31.

[6] Bloch: Naturrecht und menschliche Würde. Frankfurt a.M. 1975, S. 66 f.

(Josef Bordat)

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