Die Paradoxie des Guten

20. August 2013


Oder: Warum es vielleicht doch nicht so gut ist, wenn man meint, Religion gehöre nicht dazu.

In Berlin will ein Bezirk Menschen, die sich in religiösen Kontexten engagieren, bei der symbolischen Anerkennung ihrer Leistung durch Auszeichnungen künftig nicht mehr berücksichtigen. Religiös motiviertes Handeln zugunsten der Gemeinschaft (oft weit über die Gemeinde hinaus) soll damit in der Gesellschaft nur mehr noch toleriert, nicht aber respektiert werden. Damit kein falscher Eindruck entsteht: Menschen, die in der Nachfolge Christi stehen, brauchen keine Ehrennadel vom Bezirk. Das wäre ein grundlegendes Missverständnis, sowohl, was das Wesen des Christentums, als auch, was die Aufgaben der Kommunalverwaltung anbetrifft. Auch das mehr als 5000 Jahre alte Judentum ist seinem Selbstverständnis nach bisher ohne Orangensaftempfang im Bürgeramt ausgekommen.

Es ist damit trotzdem nicht alles in Ordnung. Denn es geht um etwas anderes: Diese Neuregelung (egal, welche Reichweite sie formal und material entfaltet – darüber konnte ich heute keine Klarheit gewinnen) zerstört nicht weniger als Kultur. Die BVV-Entscheidung zu einer Nebensache, wie sie der Verwaltungsakt einer Ordensverleihung nun mal darstellt, irritiert das gute, vertrauensvolle Miteinander von religiösen und nicht-religiösen Menschen in der Gesellschaft und droht damit, die „wohlwollende Neutralität“ (Di Fabio) des Staates gegenüber den Kirchen und Religionsgemeinschaften durch einen misstrauischen Laizismus zu ersetzen. Zum Nachteil aller.

Warum zum Nachteil aller? Um diese Frage beantworten zu können, muss man wissen, was Religion ist und wie sich Religion und Moral zueinander verhalten. Der Wert der Religion bemisst sich gerade nicht in erster Linie an seinem instrumentellen Nutzen für alle (eine Forderung der Moral), sondern an der Prägung des Lebens Einzelner, mit allem, was dazu gehört: Sinnbezüge, Deutungsmöglichkeiten, Feiern, Gemeinschaftserleben, Trost, Perspektive, Hoffnung. Das kann über verschiedene geistige und körperliche Formen der Aneignung und Mitteilung geschehen: Lektüre, Gebet, Ritual. Daraus erwächst eine individuelle Haltung, die dann die Basis moralischer Handlung ist, die sich an alle richtet. Zumindest im Christentum ist das so.

Es gibt also in der religiösen Moral ein Junktim von religiöser Haltung und moralischer Handlung. Das eine ist ohne das andere nicht sinnvoll denkbar. So, und jetzt kommt’s: Dieser Zusammenhang erschließt sich leider nur im Glauben. Leider deshalb, weil somit eine Vermittlung dieses Junktims in einer areligiösen Gesellschaft strukturell misslingen muss und dieses damit unverstanden bleibt. Und genau das zeigt sich auch am diskursiven Hintergrund eines solchen Antrags: Gewünscht ist die Filetierung der Religion in „Funktional zu gebrauchen!“ (Kann bleiben!) und „Verstehen wir nicht!“ („Weg damit!“). Das kann so nicht gehen. Man kann nicht den religiösen Menschen, soweit der Kontext, in dem er steht, religiös ist, ablehnen, insoweit man eben Religion ablehnt, ihn, den religiösen Menschen, aber zugleich beanspruchen, soweit er sich sozial engagiert, da das soziale Engagement ja gerade Ausdruck der Religiosität ist. Vita activa und vita contemplativa kann man nicht trennen, ohne dass der auf beides verwiesene religiöse Mensch Schaden nimmt.

Und die Gesellschaft. In einem solchen Umgang mit Religion und Moral wird nämlich etwas gefährdet, das sich – wiederum: leider – nur mit vertrauendem Wohlwollen erschließt: die Paradoxie des Guten. Paradox deshalb, weil das gute Handeln zugunsten Anderer (Moral) beim religiösen Menschen aus der eigenen, festen Haltung entspringt (Religion), für die man streng genommen gar nichts kann und die das gute Handeln als solches auch gar nicht beabsichtigt. Bei Menschen, die mir als verdammt gute Menschen aufgefallen sind (nicht als Gutmenschen, das ist etwas ganz anderes), ist mir zugleich immer eine fast spielerische Leichtigkeit aufgefallen, niemals ein verbissenes „So, heute ist Samstag. Heute wird mal Gutes getan!“. Viele von diesen Menschen würden die Frage nach den Gründen für ihr gutes Handeln gar nicht verstehen. Eine Schwester, die sehr viel Gutes für Waisenkinder tat, wurde mal gefragt, warum sie so viel Gutes für Waisenkinder tue. „Ach, da gibt es zwei Gründe: Weil Gott sie liebt und weil ich sie liebe!“, war ihre Antwort. Dann wandte sie sich wieder einem der Waisenkinder zu.

Solche Menschen können von einer areligiösen Gesellschaft nicht verstanden werden. Und ich meine zu verstehen, warum diese jene nicht verstehen kann: Weil sie, die Gesellschaft, die feste Verbindung von Haltung und Handlung aufgeknüpft hat, die für religiöse Menschen prägend ist, zugunsten einer moralischen Spontanität, eines situativ-kontextuellen Ethos, einer Projekt-Moralität, die im zivilgesellschaftlichen Engagement in Gestalt der Bürgerinitiative einen Ersatz für die Religionsgemeinschaft gefunden zu haben glaubt. Hier findet sich Pseudo-Religion, soweit diese eben gerade noch verstanden wird: als Trägerin einer bestimmten handlungsleitenden Moral (der Weg dorthin kann, wie gesagt, nicht nachvollzogen werden, weil und wenn der religiöse Glaube fehlt).

Nichts gegen Bürgerinitiativen – doch wer sich daran gewöhnt hat, dass es gut und richtig ist, wenn sich ethische Normen ständig ändern, je nachdem, worum es gerade geht, je nach Lage der Dinge, der kann mit jüdischen Speisevorschriften und der katholischen Morallehre nichts anfangen, und zwar nicht nur in ihrer konkreten Gestalt, sondern von Grund auf. Der muss sich wundern, dass es so etwas überhaupt gibt: verbindliche Regeln, die gelten sollen, auch, wenn sich die Situation geändert hat. Entsprechend wird in Diskussionen über diese unverstandenen Regeln auffällig oft deren hohes Alter argumentativ ins Feld geführt, so als gäbe es ein Verfallsdatum für Normen, so als sei „neu“ gleichbedeutend mit „besser“ oder sogar „gut“. Das nur am Rande.

Religion ist also weder das Gegenteil von Moral noch ein Synonym. Religion kann die Moral befördern helfen, kann moralisches Handeln durch Ausweis einer Haltung anregen, einer Haltung, die zum Guten drängt. Doch das geht nur, wenn sie in Gänze akzeptiert wird, auch mit den rein religiösen Erscheinungsformen, die nicht unmittelbar und nachweislich der ganzen Gesellschaft zugute kommen. Anders gesagt: Wer den Kern der Religion (das Gebet, den Gottesdienst, die Verehrung und Verkündung des Glaubensgeheimnisses) und an den Rand drängt, verprellt damit auch religiöse Menschen, die nicht um der Gesellschaft, sondern um Gottes Willen Gutes tun – dennoch in Konsequenz zugunsten eben jener Gesellschaft, die sie – wie gesagt – intentional gar nicht im Blick haben. Und das wiederum scheint doch sehr zu stören: Dass das gute Handeln mehr ein Ausfluss der religiösen Haltung ist, und ohne die Anstrengung möglich wird, die mancher professionelle Gutmensch erbringen muss, um auf seiner temporär und lokal limitierten Bürgerini-Bühne zumindest den Anschein des Guten zu wahren.

Die Güte religiöser Menschen, die ja auch die kurzsichtigsten BVV-Beschlüsse nicht zugrunde richten kann, wendet sich infolge solcher Nadelstiche zunehmend nach innen, in die religiöse Gemeinschaft, als nach außen, in die Gesellschaft hinein, insoweit ihnen, den religiösen Menschen, dort zuteil wird, was sie hier entbehren müssen: das Gefühl, als Mensch anerkannt zu werden, als religiöser Mensch. Und das ist wichtig. Man muss nicht religiös sein, um gut zu sein, aber damit ein religiöser Mensch gut sein kann, muss er auch religiös sein dürfen. Der religiöse Mensch muss spüren, dass er nicht nur in seiner Güte erwünscht ist, sondern auch in seiner Religiosität.

(Josef Bordat)

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