Armenien. Oder: Was ist ein Genozid?

11. Juni 2013


Papst Franziskus hat die Vertreibung und Ermordung von über 1,5 Millionen Armeniern (die Zahl der Opfer stammt aus Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amtes, 2005) den „ersten Genozid des 20. Jahrhunderts“ genannt. Meiner Meinung nach ist es der zweite Völkermord des 20. Jahrhunderts – den ersten begingen die Deutschen an den Herero (Mbandu), indem sie 1904 rund 80 Prozent der Ethnie auslöschten (75.000 Tote) –, doch dass es sich bei den Massakern an der armenischen Bevölkerung in der Türkei um einen Genozid handelt, ist in der Geschichtswissenschaft praktisch unbestritten. Einzig die Türkei selbst sträubt sich gegen die Einschätzungen zu Quantität und Qualität der Gräueltaten. Wegen Franziskus‘ Äußerung hat die türkische Regierung den Nuntius in Ankara einbestellt, um gegen die historische Bewertung des Papstes offiziell Protest einzulegen.

Will man die Frage beantworten, wer nun Recht hat (der Papst und die versammelte Geschichtswissenschaft auf den einen oder die türkische Regierung auf der anderen Seite), müsste man die historischen Tatbestände (die ja von der Türkei nur dem Ausmaß nach bestritten werden) an einer Definition von „Genozid“ messen. Eine solche enthält die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes der Vereinten Nationen, die als eine der ersten wichtigen Amtshandlungen der Generalversammlung am 9. Dezember 1948 beschlossen wurde und die am 12. Januar 1951 in Kraft trat. Danach begeht Völkermord, wer Gewalt anwendet, „in der Absicht, eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihr Volkstum bestimmte Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Die Türkei hat die UN-Völkermordkonvention unterzeichnet.

Die rasche und einstimmige Verabschiedung der UN-Völkermordkonvention durch die damals schon in Blöcke gespaltene Weltgemeinschaft stand unverkennbar unter dem Eindruck der Shoa. Die Shoa, die systematische Vernichtung der Juden (1942-45), ist ein besonders dramatisches Beispiel für Völkermord, so dass für einen Moment selbst zwischen Amerikanern und Russen Einigkeit in der Beurteilung der Geschichte herrschte. Doch die Shoa ist nicht der erste Völkermord. Als Raphael Lemkin, der die UN-Völkermordkonvention entwarf, 1944 den Begriff „genocide“ prägte, war er sich bewusst, dass es sich um „a new term for an old crime“ handelt. Ethnisch motivierte Massenmorde in genozidaler Absicht gab es immer schon – und es gibt sie bis in unsere Tage, wie der Völkermord an den Timoresen (200.000 Tote) durch die Indonesier in den Jahren 1975 bis 1979 sowie der Völkermord an den Tutsi (800.000 Tote, 75 Prozent der Ethnie) durch die Hutu in Ruanda (1994) zeigt.

Ist das Massaker an den Armeniern ein Genozid? Ich denke: Ja. Vor dem Hintergrund der Definition in der der UN-Völkermordkonvention erfüllen die historischen Tatbestände die Bedingungen, um von einem Völkermord zu sprechen: Es gab Gewalt, die sich gegen die Bevölkerungsgruppe der Armenier richtete, welche sich ethnisch und religiös von der türkischen Bevölkerungsmehrheit signifikant unterschied, und die nach Art und Ausmaß dazu geeignet war, eben diese ethnisch und religiös bestimmte Gruppe „als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Was ja auch gelang, physisch wie psychisch: Hunderttausende Armenier starben, und für die, die überlebten, ist kaum etwas wie zuvor geblieben – der Verlust von Heimat und Arbeit, von Hab und Gut hat eine ganze Generation sozial wie ökonomisch zurückgeworfen. Bis heute ist die armenische Identität wesentlich vom Genozid geprägt. Und morgen? Fest steht nur: Wer den Genozid leugnet, setzt ihn in Gedanken fort.

(Josef Bordat)

Kommentare sind geschlossen.