Gewissen. Eine Gebrauchsanweisung

3. Mai 2011


Der Moraltheologe Eberhard Schockenhoff und die Politikwissenschaftlerin Christiane Florin verfassen eine lesens- und bedenkenswerte Gebrauchsanweisung für den Kern der menschlichen Person.

Das Gewissen ist für besondere Momente reserviert. Der „innere Gerichtshof“ (Paulus; danach: Kant) tagt nur selten. Der Begriff ist groß, sehr groß. Er eignet sich für Konfessionsstifter, die vor dem Kaiser stehen, für Präsidenten, die über Krieg und Frieden entscheiden, für Fragen von Leben und Tod. Unsere Verfassung nennt explizit nur einen Sachverhalt, bei dem sich der Bürger auf sein Gewissen berufen darf: die Wehrpflicht. Alle weiteren Gewissensvorbehalte werden unter anderen Konzepten – vor allem der Glaubens- und Religionsfreiheit subsumiert.

Der moralischen Größe des Gewissenskonzepts korrespondiert in eigentümlicher Weise dessen ethische Universalität und dessen praktische Allgegenwart. Jeder Mensch, der ein Ich-Bewusstsein hat, hat auch ein Gewissen. Und: Die Rede vom Gewissen im Alltag trägt inflationäre Züge. In einer Zeit, in der objektive Wertmaßstäbe und moralische Kanons mit normativer Bindung rar sind, ist das Gewissen zudem nicht nur die einzig verbindliche, sondern auch die einzig verbindende moraltheoretische Figur, die über alle Diskurs- und Praxisgräben hinweg Anerkennung erfährt und wirksam ist.

Dennoch – die Stimme des Zweifels wird lauter: Ist die Berufung des Individuums auf das Gewissen noch zeitgemäß, wo doch der demokratische Prozess der Rechtsbildung das Gewissen qua Parlamentarismus, Expertentum und Lobbyarbeit internalisiert hat und dem Bürger die Delegation des Gewissens an den Rechtsstaat nahelegt? Was ist, wenn Rechte Dritter betroffen sind, etwa im Zusammenhang mit medizinischen Dienstleistungen, auf die ein Rechtsanspruch besteht? Und: Ist der Gewissensvorbehalt nicht ohnehin nur eine hübsche Schutzbehauptung derer, die sich als Nonkonformisten interessant machen wollen? Sind es Gewissensgründe oder „gewisse Gründe“, die katholische Ärzte dazu bringen, die Mitwirkung an Abtreibungen zu verweigern oder Muslime sich weigern lassen, Bierflaschen einzuräumen? Reichen unsere Verfahren zur Prüfung der Ernsthaftigkeit einer Entscheidung aus Gewissensgründen? Wenn nein, konterkarierte man mit einer Verschärfung der Konsequenzen nicht das Recht des Menschen, seinem Gewissen zu folgen? Wie ernst ist es uns mit dem Gewissen? Welche Fragen legen wir ihm vor und wie informieren wir es, damit die Antworten nicht nur von emotionalen Reflexen, sondern von rationaler Reflexion geformt werden?

Eberhard Schockenhoff, katholischer Moraltheologe an der Universität Freiburg und Mitglied im Gewissen der Nation, dem Deutschen Ethikrat, und die Politikwissenschaftlerin Christiane Florin, die Leiterin des Kulturressorts beim Rheinischen Merkur war, ehe dieser sein Erscheinen im November vergangenen Jahres einstellte, nehmen sich des „gewissen Etwas“ an und zeigen in ihrem 2009 im Herder-Verlag erschienen Buch Gewissen. Eine Gebrauchsanweisung, wo es überall eine Rolle spielt bzw. sinnvollerweise spielen sollte. Kurz gesagt: Überall. In der Politik, in der Wirtschaft, in den Medien, in der Medizin, in der Partnerschaft, im Berufsleben und in der Erziehung, bei den großen Fragen des Menschheitsgeschicks, bei den kleinen Themen des Alltags. Überall. Obgleich eine sachliche Eingrenzung schwer fällt, zeigen die Autoren, worauf es beim Gewissensgebrauch grundsätzlich ankommt. Die ausufernde Verwendung des Gewissensbegriffs ist, das wird dabei deutlich, weniger ein Problem des Themenfeldes, sondern des Einsatzmodus – Gewissen sollte nicht beliebig verfügbarer Platzhalter bei moralischer Ratlosigkeit sein, schon gar nicht zum Zweck eitler Exkulpation, sondern personaler Maßstab verantworteten Handelns.

Freiheit und Verantwortung

Einleitend skizzieren Schockenhoff/Florin in launiger Manier und mit dem obligatorischen Schuss Kulturpessimismus und Medienschelte – gerade so, wie es in keinem zeitdiagnostischen Buch fehlen darf – das Umfeld der Orientierungssuche: die moralisch fragmentierte Welt, die den Menschen mit ihren zahllosen Sinnangeboten hin- und herreißt und durch die Überbetonung der Entscheidungsfreiheit paradoxerweise belastend und einengend wirkt, weil die Zahl der Optionen ins schier Absurde geschossen ist. Die „freie Auswahl“, die sämtlichen Lebensvollzüge eignet, lähmt. Längst bestimmt die „Qual der Wahl“ den Alltag vieler Menschen. Das Gefühl der Überforderung stellt sich ein. Es braucht eine Instanz, die Ordnung schafft: das Gewissen.

Das Buch ist zudem erkennbar vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund von Stammzelldebatte und Finanzkrise geschrieben worden. Aktuelle politische Ereignisse spielen eine Rolle, wie die aus Gewissensgründen (oder: „gewissen Gründen“?) verhinderte hessische Ministerpräsidentin Ypsilanti (eine im geteilten Berlin aufgewachsene SPD-Abgeordnete weigerte sich, der Duldung einer Minderheitsregierung unter Ypsilanti durch die LINKEN zuzustimmen und gab Gewissensvorbehalte als Grund an), aber auch „zeitlose“ Themen, die das Alltagsgewissen belasten können: Steuerehrlichkeit, Lebenslügen, Fragen der Gesundheit, insbesondere die Frage, welchen Preis man für die eigene biologische Existenz zu zahlen bereit ist, und das Thema Nr. 1 – Sex. Hier scheint der Zeitgeist nur noch die eigene Lust als Maßstab anzuerkennen, doch Schockenhoff/Florin zeigen die Relevanz des Gewissens auch in Fragen von Partnerschaft und Sexualität. Der mit dem Moralbegriff Gewissen in direkter Linie verwandte Handlungsbegriff Verantwortung erstreckt sich bis unter die Bettdecke.

Kirche und Sex

Die Autoren versuchen, die Linie der katholischen Kirche nachzuziehen, ohne dabei primär auf eine Verbots- und Strafrhetorik zu setzen, die ohnehin vorzugsweise in der Phantasie von Kirchengegnern existiert, nicht aber in der katholischen Sexualmoral. Ihr geht es im Kern darum, so heben Schockenhoff/Florin hervor, dass der Sex nicht verabsolutiert wird, sondern als „Körpersprache der Liebe“ an die Personalität des Menschen gebunden bleibt, die sich in Verantwortung für den Partner zeigt, für seinen Geist, seine Seele und seinen Körper. Denn, auch wenn es antiquiert klingt: Sex verbindet, weil „das Verbindendste überhaupt – ein Kind – daraus hervorgehen kann“. Und gerade hier liegt die Krux der Empfängnisverhütung und zugleich der Grund, weshalb die katholische Kirche als einzige Instanz Vorbehalte dagegen geltend macht: in der Wegnahme der Verbindlichkeit. Fehlende Verbindlichkeit tut dem Menschen nicht gut. Sagt die Kirche. Sagt einem aber auch, irgendwann, vielleicht zu spät – das Gewissen.

Diesem eine größere Bedeutung beizumessen, fordern die Autoren von der Kirche, wenn sie anregen, den „Spielraum für eigenverantwortliche Gewissensentscheidungen, die ein Paar entsprechend seiner jeweiligen Lebensumstände trifft“ in der Morallehre dadurch zu erweitern, dass eine positive Diktion („Ja zur Freude, Ja zur Lust, Ja zum Leben“) in den Vordergrund der Verkündigung rückt und die dann immer noch nötigen Grenzziehungen „nicht zu früh“ vornimmt. Papst Benedikt sei dazu auf dem richtigen Weg.

Die Autoren kritisieren die Kirche aber auch für ihre Kommunikationsprobleme, die Grenzziehungen betreffend: „Der katholischen Kirche ist es nicht gelungen, den Sinn ihrer rigiden Moral verständlich zu machen. Sie hat zu lange auf Gehorsam vertraut und war zu wenig bemüht, zu überzeugen.“ Tragisch, aber wahr. Dabei hat sie nichts zu verstecken: „Tatsächlich ist der christliche Glaube mitnichten körperfeindlich. Sexualität hat aus kirchlicher Sicht eine dreifache Bedeutung: die Erfahrung von Lust, die Bestätigung der Beziehung und die Offenheit für neues Leben.“ Diese drei Bedeutungen gehören untrennbar zusammen. Konsequenz: „Wer diese Trias auseinanderreißt, degradiert Sex zur unwürdigen Verrichtung.“ Hört sich – auch und gerade für Vernunft und Gewissen – weit tragfähiger an als „Papst verbietet Pille!“. Doch die eigentlichen Anliegen der Kirche werden in der „medialen Erregung“ selten sachlich dargestellt. Das verweist auf ein Thema, welches die Autoren ebenfalls unter der Fragestellung nach dem Gebrauch des Gewissens behandeln: Wahrheit und Medien.

Wahrheit und Medien

Die Verbindung von Information, Service und Unterhaltung kennzeichnet heute die Massenmedien, die vom „Dienst an der Öffentlichkeit“ längst zur „Dienstleistung an Teilöffentlichkeiten“ übergegangen sind. Ebenso kennzeichnet das scharfe Urteil den zeitgenössischen Journalismus: Wer differenziert, „steht auch in seriösen Medien oft als Meinungsschwächling da“. Die Autoren fällen selbst ein hartes Urteil: „Weder Wissen noch Gewissen steuern Auswahl und Umsetzung der Themen, sondern Marktdaten und Publikumsanalysen.“

Die Wahrheit braucht unter diesen Bedingungen „einen Mutigen, der sie ausspricht“, denn es gilt, die „Übermacht der Lüge“ zu brechen. Zugleich geht es darum, die eigene Wahrheit an der des Anderen zu spiegeln. Die Autoren, die das Gewissen als „Stimme des anderen“ in uns auffassen, raten mit Habermas zur Rücksicht, etwa, wenn Religionsgemeinschaften Gegenstand der medialen Darstellung sind. Takt sei etwas anderes als Lüge und es brauche in den Medien mehr „Fingerspitzengefühl“, um dem Schreckgespenst „Zensur“ elegant zuvorzukommen.

Auch das Internet mit seinen besonderen Bedingungen (Anonymität, mangelnde Regulierbarkeit) bekommt sein Fett weg, denn es „erweckt aufgrund seiner anarchisch-demokratischen Struktur den Eindruck, jeder habe einen Anspruch auf alles“. Auch hier mahnen Schockenhoff/Florin „Sensibilität“ an. Der user, der in Foren und auf Blogs klatscht und tratscht, muss „zwischen intim und privat sowie privat und öffentlich unterscheiden können“. Und wohl auch wollen – eine Leistung des Gewissens. Doch: „Das Internet macht es leicht, die Stimme des Gewissens stummzuschalten“, weil der Andere nicht da ist, nur der PC. Deswegen muss man sich gezielt darum bemühen, auch in virtuellen Räumen das Gewissen wach zu halten, denn: „Auf die innere Stimme zu hören, bevor die äußere ins Netz trompetet, dient der Rücksicht auf andere wie dem Selbstschutz.“

Leben und Tod

Um das eigene Leben und das der Anderen geht es im engeren Sinne bei den medizinischen Gewissensfragen, die die Autoren im Schlusskapitel behandeln. Abtreibung, Pränatal- bzw. -implantationsdiagnostik, künstliche Befruchtung, embryonale Stammzellforschung, Sterbehilfe – ein paar Reizwörter des bioethischen Diskurses, in dem Ethikrat-Mitglied Schockenhoff einige Erfahrung vorzuweisen hat. Deswegen und wegen der dramatischen Gewissenskonflikte, in die der medizinische Fortschritt uns alle – ohne Ausnahme – schickt, ist dieser Abschnitt der stärkste des Buchs.

In ruhiger, sachlicher Art erläutern die Autoren an Fallbeispielen das hohe Potenzial an schier unauflöslichen moralischen Dilemmata in der neuen Welt der unbegrenzten therapeutischen Möglichkeiten. Sie stellen Hoffnungen und Befürchtungen gegeneinander, weisen auf Alternativen zu den ethisch bedenklichen Ansätzen hin und zeigen damit vor allem, dass es eines nicht gibt: einfache Lösungen. Das Gewissen muss hier ganze Arbeit leisten. Und der Mensch muss bereit sein, es aus verschiedenen Richtungen mit Bedenkenswertem zu speisen, damit es als informiertes Gewissen zu einer tragfähigen, verantwortlichen Entscheidung verhelfen kann.

Fazit

Eberhard Schockenhoff und Christiane Florin legen einen verständlich und unterhaltsam geschriebenen, in seiner Sprache sehr deutlichen, manchmal gar deftigen, in jedem Fall lebensnahen und daher praktischen Text vor, der das Thema Gewissen alltagsrelevant aufarbeitet: ein Ratgeber, der es wert ist, gelesen zu werden, weil er nicht nur sauber diagnostiziert, woran es mangelt, sondern auch Therapievorschläge macht, deren Maxim lautet: „Habe Mut, dich deines Gewissens zu bedienen.“ Es lohnt sich.

(Josef Bordat)

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