Tierschutz hört beim Menschen auf

22. November 2012


Da Kollege Alipius derzeit ins Visier von Tierschützern geraten ist (also Leute von der Sorte, die für ihren Dackel Kontinente untergehen lassen würden, wäre klar, dass dort nur Menschen leben), wage ich, einen schon etwas älteren Schriftwechsel mit einer Tierschützerin in anonymisierter Form öffentlich zugänglich zu machen. Da dieser ohnehin im Internet steht (eine Verlinkung auf die Diskussion spare ich mir; die Quelle kann aber auf Nachfrage gerne persönlich bekanntgegeben werden), sehe ich hier auch keine Rechte verletzt. Da es sich bei den Gesprächspartnern um Menschen handelt, ist das offenbar sowieso egal. Aber lesen Sie selbst.

In einem Blogbeitrag war zu lesen:

„Ich mag dieses pseudo-ethische Gerede (z. B. von diversen Kirchenvertretern) nicht mehr hören, steckt darin doch eine gehörige Portion Doppelmoral [Hervorhebung im Original, J.B.] und – mal wieder – die arrogante Vorstellung, dass der Mensch die Krone der Schöpfung ist. Ist er für mich nicht. Für mich ist alles, was lebt, wunderbar, schützenswert und gut (= ,göttlich‘ [Hervorhebung im Original, J.B.]), eine Rangfolge des Schützenswerten mit dem Menschen an der Spitze gibt es für mich nicht.“

Hört sich unglaublich modern, fortschrittlich undsoweiter an. Richtig. Aber was folgt daraus? Ich hatte damals Zeit und Lust, nachzufragen.

Ich schrieb:

„Nur um Sie richtig zu verstehen: Mal angenommen, in einem Haus befinden sich 10 Katzen, 10 Hunde, 10 Schweine, 10 Kühe und 10 Molche, in einem anderen Haus befinden sich 50 Menschen. Wenn beide Häuser in Brand geraten und es gibt nur Wasser/Zeit/Hilfskräfte für eines der beiden Häuser, könnten Sie sich als Einsatzleiterin nicht entscheiden, wo mit den Löscharbeiten begonnen werden soll? Nach dem hier Vorgetragenen drängt sich mir dieser Eindruck auf und – zugegeben – irritiert er mich etwas. Also: Habe ich Sie da richtig verstanden?

Herzliche Grüße,
Ihr
Josef Bordat“

Die Dame antwortete umgehend:

„So pauschal kann ich das nicht sagen. Immer würde es in einem solchen Fall auch auf den Grad der persönlichen Beziehung ankommen.

Ich bin ein Mensch, also würde ich in dem von Ihnen angesprochenen Fall sicher zunächst meine ,Artgenossen‘ zu retten versuchen.

Habe ich aber die Wahl zwischen Menschen, die ich kenne, und Menschen, die ich nicht kenne, würde ich natürlich zuerst die Menschen retten, die ich kenne, mit denen mich etwas (ein Gefühl, eine Beziehung …) verbindet.

Hätte ich die Wahl zwischen zwei brennenden Häusern – unserem und unserem Nachbarhaus – würde ich zuerst auch unseren Hund und unseren Kater noch retten – ehe ich mich auf das Nachbarhaus und die Menschen darin konzentrieren würde.

Ja, im Prinzip glaube ich aber, dass Sie mich richtig verstanden haben.“

Ich formulierte eine Anschlussfrage:

„Angenommen wir wären Nachbarn und hätten beide einen Regelungsfimmel. Wir würden also gerne alles zwischen uns vertraglich regeln wollen, auch, wie wir uns im Falle eines solchen Brandes verhalten sollen. Selbstverständlich würden wir uns prinzipiell zu gegenseitiger nachbarschaftlicher Hilfeleistung verpflichten. Ich würde Ihnen auch zugestehen, dass Sie zuerst Ihren Kater und dann mich zu retten haben. Ich hätte allerdings gerne eine Klausel im Vertrag: Bevor ich nicht meine weiße Maus gerettet habe, können Sie (und evtl. vorhandene Angehörige und/oder Gäste) soviel um Hilfe schreien, wie Sie wollen, eine Hilfspflicht soll bitte schön nicht erwachsen (zumindest nicht aus diesem Vertrag). Erst wenn ich meine weiße Maus gerettet habe, muss ich mich um Sie kümmern. Würden Sie einem Vertrag mit derartiger Klausel zustimmen? Wenn nein: Warum nicht? Wenn ja: Kränkt es Sie nicht, dass ich (immerhin Ihr Nachbar!) das Leben einer Maus im Zweifel über das Ihre stelle?

Viele Grüße,

Ihr J. Bordat“

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten und überrascht zu Beginn durch einen weit ausholenden Rundumschlag gegen alles, was sich scheinbar oder tatsächlich gegen den Tierschutz und das Primat der Maus über den Menschen stellt, also Jesus und so.

„Lieber Herr Bordat,

ich weiß, dass Sie sehr christlich geprägt sind. Das ist bei mir völlig anders. Für mich ist jede Religion Märchenkram. Ich glaube nicht an einen Schöpfer-Gott, nicht an Jesus als ,Gottessohn‘, nicht an den ,Heiligen Geist‘. Auch alle anderen Religionen sind für mich der sehr menschliche Versuch, in seinem Leben so etwas wie einen ,höheren‘ Sinn zu finden und die elterliche ,Allmacht‘, die man in der Kindheit als behütend und schützend empfunden hat, im Erwachsenenalter auf so etwas wie einen ,Übervater‘ zu projizieren, der während des gesamten irdischen Lebens (irgendwie) die Hand über mich hält und mich schützt.

Ich sehe mehr die biologisch-chemischen Prozesse des Lebens, glaube an die Evolutionstheorie und betrachte den Menschen als ein weiter entwickeltes Säugetier mit einem größeren, leistungsfähigeren Gehirn, höherer Intelligenz (nun ja – in der Regel jedenfalls *grins* [Hervorhebung im Original, J.B.]) und damit größeren kreativen Möglichkeiten. Mehr nicht.

Das vorweg und (stark verkürzt) meine Antwort auf die Frage ,Was ist der Mensch?‘.

Zu Ihrer Anschlussfrage:

Das mit dem ,Regelungsfimmel‘ kann ich mir nicht vorstellen, denn ich finde ihn in mir nicht. Aber ich kann sagen, dass ich meinem Nachbarn keineswegs böse wäre, wenn er das Überleben seiner (vermutlich) über alles geliebten Maus über mein Leben stellen würde. Ich könnte ihn verstehen (würde ich es bei meinen Tieren doch genauso sehen), und ich denke nicht, dass diese Liebe von der *Größe* [Hervorhebung im Original, J.B.] eines lebendigen Wesens abhängt.

Ja, so denke ich nun mal.“

Ich musste noch einmal nachhaken, weil ich – ganz ehrlich – mir nicht so recht denken kann, wie ein Mensch „nun mal“ so denken kann, ein Mensch, der zudem in Religionsphilosophie, Entwicklungspsychologie und in allem anderen auch so unfassbar gut informiert ist – an der Erkenntnis, dass es sich bei Gedankenexperimenten um Gedankenexperimente handelt, die man gerade deswegen „Gedankenexperimente“ nennt, weil ihr Gegenstand (also: der Gedanke) so zugespitzt ist, dass man ihn nur ganz selten „in sich findet“, müsste trotz erwiesener intellektueller Überlegenheit noch gearbeitet werden, auch wenn die einem Gedankenexperiment inhärente Zuspitzung nicht ganz unproblematisch ist.

Also:

„Liebe Frau XY,
vielen herzlichen Dank für Ihre Stellungnahme!

Ich muss jetzt noch mal – auch auf die Gefahr hin, Ihnen allmählich auf die Nerven zu gehen – nachhaken.

Offenbar ist für Sie jede Lebensform grundsätzlich gleichwertig, auch wenn es Unterscheidungsmerkmale gibt (Sie nannten ,Größe‘, ,Intelligenz‘ – was immer das nun im einzelnen heißen mag). Ich möchte noch mal mit drei Nachfragen prüfen, ob ich Sie in dem Punkt wirklich richtig verstanden habe.

1. Die Gleichwertigkeit von Lebensformen: Geht das für Sie weiter bis in die Pflanzenwelt oder ist bei den Tieren Schluss? Falls ja: Warum? Falls nein: Ersetzen Sie im Brand-Beispiel die Maus durch ein Stiefmütterchen (also die Pflanze jetzt!): Ich stelle also im Zweifel das Leben des Stiefmütterchens über das Ihre. Änderte sich dann irgendetwas an Ihrer Einschätzung, dass Sie mir – als Ihrem Nachbarn – ,keineswegs böse wären‘?

2. Ich weiß nicht, ob Sie Kinder haben, es geht mich streng genommen auch nichts an.
Stellen Sie sich vor (wir sind immer noch Nachbarn) Ihr Kind und einer meiner 27 Molche, die ich mir halte, zusätzlich zu meiner Maus und meinem Stiefmütterchen, werden entführt. Die Entführerin meldet sich und sagt, dass sie eines der beiden Wesen freilässt, das andere tötet. Lösegeld will sie nicht, da sie gestern unverhofft in der Staatslotterie gewonnen und sowieso schon genügend Probleme mit der Steuer hat. Sie würde aber, warum auch immer, gerne eines der Entführungsopfer töten. Die Entscheidung darüber, welches, stellt sie mir anheim – warum auch immer. Ich entscheide mich für das Leben meines Molches, der Tags darauf unversehrt bei mir eintrifft. Ihr Kind wird getötet.

Sie sind natürlich damit einverstanden, dass ich das Leben meines (wie Sie glauben: geliebten) Molches über das Ihres Kindes stelle. Soweit habe ich Sie (hoffentlich richtig) verstanden. Jetzt begibt es sich, dass wir uns eine Woche später auf der Straße treffen und über den Fall sprechen. Dabei sage ich Ihnen: ,Es war mir egal, wer getötet wird. Ich liebe weder den Molch, noch Ihr Kind. Da ich mich nicht entscheiden konnte, habe ich eine Münze geworfen. Das Los fiel halt auf Ihr Kind. So ist das.‘ Frage: Wären Sie mir (jetzt) irgendwie böse?

3. Während der Hochphase der ,Vogelgrippe‘ vor einigen Jahren wurden in Südostasien mehrere Millionen Vögel getötet, um das Infektionsrisiko für Menschen zu reduzieren. Diese Nachricht wird Sie, wie viele andere auch, sicherlich schockiert haben.

Mal angenommen der Fall läge andersherum. Nehmen wir mal an, in Tansania trügen die 5 Millionen Mitglieder eines bestimmten Volksstammes ein Virus, das für sie selbst ungefährlich ist, aber bei Hühnern und anderen Geflügelarten, nach allem, was wir wissen, zum Tode führt. Die Regierung von Tansania beschließt aufgrund dieser Sachlage, die Angehörigen des besagten Volksstamms zu töten. Auf Betreiben des Vatikan beschäftigt sich der UN-Sicherheitsrat in einer Dringlichkeitssitzung mit dem Fall. Da die Vertreter der fünf Ständigen Mitglieder allesamt Hühnerliebhaber sind (vor allem der Vertreter Chinas), kommt es nicht zu einer Verurteilung der Regierung von Tansania, sondern zur Entsendung von UN-Hühnerschutztruppen, die dem Militär von Tansania bei den Exekutionen zur Seite stehen. – Frage: Gibt es irgendetwas an dieser Geschichte, das Sie stört? Mal abgesehen vom Vatikan.

Herzliche Grüße,
Ihr
J. Bordat“

Auf Antwort warte ich seit vier Jahren.

(Josef Bordat)

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