Das Gewissen in christlicher und säkularer Perspektive

7. Januar 2013


Das Gewissen – nach christlicher Vorstellung Teil der im Schöpfungsakt von Gott geschaffenen menschlichen Seele – entwickelt sich im Kontext einer naturalistisch interpretierten Hominisation mit dem Erwachen des Bewusstseins als Emergenz der dafür hinreichend entwickelten Materie. Wie das genau geschieht, wird nicht gesagt. Als Gründe findet man den Übergang zur Mischernährung, die Vergrößerung des Gehirns, das Zusammenwachsen der Hirnhälften, die Rückwirkung der Komplexitätszunahme in der Umwelt auf die menschliche Problemlösungskompetenz etc. Was jedoch die Ursachen dieser Gründe sind, was mithin die letzte Ursache davon ist, dass es überhaupt wirkende Ursachen und Gründe geben kann, darüber werden keine Aussagen gemacht, weil Spekulationen darüber nicht Gegenstand der naturwissenschaftlichen Sicht sein können. Naturwissenschaft beginnt erst dort, wo die Kategorien Raum und Zeit als Bedingungen der Möglichkeit von Kausalität in Erscheinung treten – wie und warum sie dies tun, braucht den Naturwissenschaftler nicht zu interessieren.

Dieses methodische Desinteresse berechtigt ihn jedoch nicht zu der Annahme, philosophische und theologische Spekulationen, die Aussagen machen zur Ursache der Tatsache, dass es überhaupt etwas gibt (und nicht etwa nichts), seien prima facie sinnlos, nur weil sie (im Sinne der naturwissenschaftlichen Methodologie) „unwissenschaftlich“ sind. Die Vorstellung von Schöpfung als „Unsinn“ zu betrachten, schon allein deswegen, weil Antworten auf die Ursprungsfrage den Aussagerahmen der Wissenschaft sprengen, ist szientistischer Dogmatismus, der nur von wenigen Wissenschaftlern vertreten wird. Die meisten Naturwissenschaftler – gerade die von Rang und Namen – erkennen, dass diese Fähigkeit zur Spekulation gerade die Stärke der Geisteswissenschaft ist. Sie erkennen, dass jenseits der wissenschaftlichen Weltsicht nicht die Sphäre der Beliebigkeit beginnt, sondern das vernünftige Nachdenken über letzte Fragen, die nicht von der Wissenschaft beantwortet werden können. Dafür braucht es die metaphysische Spekulation. Der christliche Schöpfungsglaube, aus dem sich das christliche Menschenbild und damit die christliche Moral ergibt, ist eine solche metaphysische Spekulation aus Vernunftgründen.

Aus dem Umgang mit der Ursprungsfrage ergeben sich vielfältige Differenzen zwischen dem christlichen und dem säkularen Begriff des Gewissens. Doch so unterschiedlich die Vorstellungen hinsichtlich dessen sind, was das Gewissen ist (Stimme Gottes; evolutionär entstandener Moralinstinkt) und – salopp gesprochen – woher es kommt (schöpferische Geisteskraft; evolutiver Naturprozess), wem es sich verdankt (Gott; Natur), welcher Substanz es zugerechnet werden kann (Geist; Materie) und was seiner Bildung im Menschen zugrunde liegt (Information; Selektion und Mutation), so ähnlich ist die Einschätzung der großen Bedeutung des Gewissens in der Alltagssprache von religiösen und nicht-religiösen Menschen, sei es ihnen nun „Stimme Gottes“ oder „Moralinstinkt“.

Dabei wird jedoch übersehen, dass mit der Referenz auf einen „Instinkt“ viel von der moraltheoretischen Potenz des Gewissensbegriffs weggenommen wird. Das muss in der Praxis keine unüberwindlichen Probleme bereiten zwischen Menschen und Menschengruppen, die (explizit oder implizit) einer der beiden Deutungsrichtungen folgen, doch wir könnten über weltanschauliche und anthropologische Differenzen in der Gewissenstheorie nur dann ganz hinwegsehen, wenn die naturalistische Ausrichtung, welche die Welt als rein materiell und den Menschen ausschließlich als genetisch veranlagtes biologisches System bestimmt, nicht in eine Aporie mündete, so sie denn an Moral und Gewissen (wenn auch abgespeckt) festhält, zugleich aber Freiheit und Verantwortung leugnet, ja: leugnen muss, und jene „instinkthafte“ Moralität und Gewissenhaftigkeit einem evolutiven Prozess der Sozialisation des Menschen zuschreibt, dessen Lerneffekte ohne Vernunft, Freiheit und Verantwortung auskommen, ja: auskommen müssen. Denn wo sollte plötzlich die Kontingenz der menschlichen Freiheit (und damit die Notwendigkeit, Verantwortung in diesem Möglichkeitsraum „Welt“ zu übernehmen) herkommen, wenn nicht aus der geistigen Dimension des Menschen und der prinzipiellen Unmöglichkeit, diesen Raum letztgültig mit unseren Mitteln zu bestimmen? Und beides wird ja gerade negiert.

Ähnliches gilt für eine Vernunft, die als praktische Rationalität nicht nur Verteilungsprobleme in kleinen Gruppen lösen soll, sondern etwa moralische Verallgemeinerungen (Kategorischer Imperativ, Goldene Regel) vornimmt oder die moralische Relevanz räumlich (Nächstenliebe) oder auch zeitlich (Sorge um künftige Generationen) ausdehnt, wie dies etwa die christliche Ethik mit ihrem supererogatorischen Anspruch tut. Wo soll diese Vernunft herkommen, wenn sie sich doch allein den räumlich und zeitlich abgegrenzten Erfahrungen der Menschheitsentwicklung verdankt? Und das ist ja der Ansatz der evolutionär-soziobiologischen Erklärung für das Phänomen „Moral“: Das Einüben von sozialen Mechanismen in Gruppen (z. B. Teilen) verstetigt die durch Selektion und Mutation evoluierte Bewusstseinskonfiguration, die diesem Tun korrespondiert, und aus der dann Regeln entstehen (z. B. Du sollst teilen.), die durch dauerhafte Beachtung zu Prinzipien werden (Teilen ist sinnvoll.). Wo, wann und wie genau die Einsicht in die Notwendigkeit zur Verallgemeinerung der Regeln des Sozialverhaltens einsetzt und daraus entsprechend moralische Prinzipien des Zusammenlebens entstehen, aus denen wiederum Grundsätze einer Ethik abgeleitet werden (z. B. Verteilungsgerechtigkeit), die dann normativ auf die Gestaltung der Zivilisation wirken konnten, bleibt im Dunkeln, wobei einigen Soziobiologen diese Differenz von konkret zu beobachtender Gruppenorganisation hin zur Feststellung, dass dieser nicht ein „Instinkt“, sondern Einsicht in die Notwendigkeit zugrunde liegt (nur das wäre ja Moral im philosophischen und theologischen Sinne!) gar nicht klar zu sein scheint – bei einigen Autoren aus dieser Richtung ist das soziale Verhalten „Teilen“ bereits der gesuchte moralische Akt. Ohne in die philosophische Kritik an der Soziobiologie einsteigen zu wollen: Moral ist mehr als Verhalten. Und: Gewissen ist mehr als Instinkt.

Ganz gleich, ob man das Gewissen theologisch in der von Gott geschaffenen Seele verortet oder biologistisch von einer rein materiellen Entwicklung ausgeht: Das Gewissen ist eine moralische Instanz, deren Bedeutung unbestreitbar in ihrer besonderen Auszeichnung liegt – als Einrichtung von allgemeiner (jeder Mensch hat Gewissen), unmittelbarer (weder als Stimme Gottes noch als frühes Resultat der Evolution des Menschen bedarf es grundsätzlich besonderer Kenntnisse und Fähigkeiten, es hier und heute zu nutzen) und bestimmender Bedeutung für den Menschen (auf die Stimme Gottes hört man als Gläubiger, auf den ersten Funken von Sozial- und Rechtsordnung mag man als Ungläubiger hören). Problematisch wird die weltanschaulich-anthropologische Differenz von christlicher und säkularer Perspektive jedoch, weil und soweit im Horizont dieser Sicht die Basis der Moralität (Moral im philosophischen, nicht soziobiologischen Sinne), nämlich Vernunft und Freiheit, infrage gestellt werden, Elemente, die von grundlegender Bedeutung sind für den Gewissensbegriff in christlicher Perspektive.

(Josef Bordat)

Kommentare sind geschlossen.