Abrahamitischer Lebensschutz

27. April 2015


Über christliche und islamische Bioethik. Ein Nachtrag zur Woche für das Leben

Wenn es zwei Dinge gibt, die im 21. Jahrhundert in Deutschland mit Sicherheit zunehmen werden, dann die Zahl der biotechnologischen Eingriffsmöglichkeiten in der Humanmedizin und die Zahl der Muslime. Es ist also an der Zeit, darüber nachzudenken, wie eigentlich der Islam zu den aktuellen Themen der Bioethik steht, insbesondere, ob es möglich ist, gemeinsam mit Muslimen eine Ethik des Lebens zu entwickeln, in der sich die christliche Vorstellung vom Menschen wiederfindet.

Ich muss das Rad nicht neu erfinden. Bereits 2004 erschien die von Thomas Eich und Helmut Reifeld im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung herausgegebene Schrift Bioethik im christlich-islamischen Dialog. Mir erscheint es sinnvoll, einige Essenzen daraus vorzustellen, als Basis für einen möglichen Schulterschluss der beiden quantitativ bedeutendsten Religionen in Deutschland, für einen wirkungsvollen Lebensschutz.

Zunächst scheint es mir wichtig, die Differenzen aufzuzeigen, die es freilich auch gibt. Das fängt damit an, dass Bioethik als Teil der Ethik im Christentum ein theologisches Thema ist, im Islam ein rechtskundliches. Während also moralische Fragen zu Abtreibung, Pränataldiagnostik, Sterbehilfe, Gentechnik, Klonen etc. im Rahmen der christlichen Theologie verhandelt werden (genauer: in der Theologischen Ethik), ist dafür im Islam die Rechtslehre (die sharî’a) einschlägig.

Das wiederum hängt mit der unterschiedlichen Verhältnisbestimmung von (religiöser) Moral und (säkularem) Recht zusammen: Während im Christentum (spätestens seit Kant) die Sphären von Moralität und Legalität (zumindest methodisch) getrennt werden, behandelt der Islam sie nach wie vor als Einheit. Daraus resultiert ein grundlegendes Problem: Wie kann der Diskurs mit der säkularen Gesellschaft gelingen, wenn in der Argumentation nicht zwischen den (im Diskurs nicht zu vermittelnden) Glaubensgrundlagen und ihren (im Diskurs zu vermittelnden) normativen Folgerungen getrennt wird?

Die argumentationstheoretische und (ebenso wichtig!) sprachliche Anschlussfähigkeit der Theologischen Ethik des Christentums an den Diskurs ist gewährleistet (nicht zuletzt durch eine nun schon drei Jahrhunderte währende Einübung im terminologischen „Ball flach halten“, aber auch durch die frühe Einbindung moralphilosophischer Gedanken, etwa in der Naturrechtslehre). Die islamischen Rechtsgutachten (die fatāwā) hingegen sind in ihrer religiösen Diktion sehr voraussetzungsreich und daher für einen offenen moraltheoretischen Diskurs in einer säkularen Gesellschaft ungeeignet.

Das bedeutet: Auch, wenn es offensichtlich ist, dass Moslems und Christen in vielen Fällen auf ähnliche Interpretamente zurückgreifen (etwa: Schöpfung), gelingt es christlichen Ethikern besser, diese in säkularer Sprache auszulegen und die in ihnen liegenden Sinnressourcen einer großen Zahl an Diskursteilnehmern verfügbar zu machen, auch solchen, die nicht an einen Schöpfer glauben. Es mag zwar auch Diskursteilnehmer geben, die ein Argument allein deshalb ablehnen, weil es von einem Bischof (oder einem katholischen Blogger) stammt, aber diese befinden sich eher in der Minderheit.

Kommen wir zu den Übereinstimmungen. Es lassen sich sowohl methodische als auch inhaltliche Parallelen erkennen, wie der evangelische Theologe und Islamwissenschaftler Klaus Hock in seinem Aufsatz Islam und Christentum. Gibt es gemeinsame Ziele in der Bioethik? herausarbeitet. Gemein ist Vertretern beider Religionen, dass sie sowohl deontologisch als auch konsequentialistisch argumentieren.

Hier gibt es wohl eher eine innerchristliche Differenz von katholischer und protestantisch-pietistischer Ethik: Letztere ist als „Gebotsmoral“ streng deontologisch (Kant blieb vom preußischen Protestantismus nicht unbeeinflusst), erstere unter Berücksichtigung des Naturrechtsgedankens auch offen für eine Prüfung der gebotenen Moral an der Vernunft (Thomas von Aquin ist hier maßgebend), was die Analyse der Konsequenzen gebotener Handlungen einschließt.

Doch während bei christlichen Ethikern beider Konfessionen traditionell die Handlungsprinzipien als normativ gelten (auch, wenn sie mal als theonom vorgegeben, mal als autonom erschlossen und vernunftgemäß verinnerlicht angesehen werden), gibt es im islamischen Moralverständnis eine starke Fokussierung auf die Handlungsfolgen. Maßgebend ist hier das Kriterium der Nützlichkeit im Sinne des Gemeinwohlinteresses (die maslaha). Interessanterweise liegen islamische Rechtsgelehrte damit näher an Vorstellungen der säkularen Ethik (etwa dem Utilitarismus) als christliche Moraltheologen.

Besonders auffällig sind die inhaltlichen Übereinstimmungen. Mit einem Wort: Schöpfung. Sowohl das Christentum als auch der Islam gehen dabei von der Souveränität Gottes als Schöpfer und von der Verantwortung des Menschen als Geschöpf aus. Das führt zu einer in beiden Religionen aufweisbaren „Dreiecksbeziehung“ von Gott, Mensch und Natur. In beiden Moraltheorien geht es um die Gestaltung dieser Beziehung, insbesondere um die Rolle des Menschen, der einerseits als Geschöpf von Gott abhängt, andererseits als „Krone der Schöpfung“ die Verantwortung für die Schöpfung insgesamt trägt, also für die Natur, die Umwelt.

Unterschiedliche Nuancen gibt es allenfalls bei der Ausdeutung des Herrschaftskonzepts als Aufruf zur Schöpfungsverantwortung: Während die gottgegebene Herrscherrolle des Menschen im Christentum heute explizit auf Verantwortung festgelegt wird (dadurch, dass man das Konzept von Herrschaft seit der Aufklärung grundsätzlich so versteht, auch in anderen Zusammenhängen, was durch immer flachere Hierarchien untermauert wird), erlangt der Mensch im Islam durch göttliche Beauftragung als „Nachfolger“ (als khalîfah) der Engel eine besondere Garantenstellung für die Bewahrung alles Geschaffenen. Es handelt sich also im Islam um eine stark glaubensabhängige Begründung der Verantwortlichkeit des Menschen, während diese im Christentum mit der Moderne vermittelbar ist.

Wenn wir Bioethik als Ethik des Lebens begreifen, so die Schlussfolgerung Hocks, können wir über diese Parallelen zu einer gemeinsamen „Leitlinie der ethischen Orientierung“ kommen. Ich denke, er hat Recht. Mit dem „Dreieck“ Gott, Mensch, Natur und dem Gedanken der Schöpfung als Ursprung und Resultat dieser Beziehung teilen Christen und Muslime gemeinsame Denkfiguren, über die sie im bilateralen Gespräch mit guten Perspektiven reden können.

Allerdings müssen die Ergebnisse eines solchen Gesprächs in den Diskurs einer Gesellschaft übertragen werden, die weder Gott noch Schöpfung als Ausgangspunkte des bioethischen Nachdenkens akzeptiert. Ob das gelingt, hängt auch von der Sprache ab, die wir als religiöse Dialogpartner sprechen.

(Josef Bordat)

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