9.442.994 Opfer

10. Juli 2015


Oder: Wie es zum Anti-Klerikal-Schutzfaktor 190 kam.

Manchmal ist Geschichte alles andere als trocken. Dann etwa, wenn man sich daran macht, die Wirkung historischer Fehleistungen zu analysieren. Einer der wohl bekanntesten Irrtümer dieser Art ist die „Neun-Millionen-These“, nach der die Hexenverfolgung in Europa zu neun Millionen Opfern geführt habe. Das ist – wie wir heute wissen – Quatsch. Besser gesagt: Es ist Propaganda, es ist immer Propaganda gewesen, es hatte nie einen anderen Zweck. Der Mann, dem wir die genauen Erkenntnisse zur Entstehung und Tradierung der „Neun-Millionen-These“ zu verdanken haben, heißt Wolfgang Behringer. Er hat 1998 einen Aufsatz mit dem Titel Neun Millionen Hexen. Entstehung, Tradition und Kritik eines populären Mythos geschrieben, in dem er die überaus wertvolle Arbeit leistet, den Hintergrund der „Neun-Millionen-These“ auszuleuchten und diese als wirkmächtigen Irrtum zu entlarven, der durch die letzten Jahrhunderte hindurch antiklerikaler Propaganda unterschiedlichster Provenienz auf die Sprünge half.

Behringer geht zurück ins späte 18. Jahrhundert, ins Zeitalter der Aufklärung. Damals war antiklerikales Denken durchaus erwünscht. Also hat sich – wir schreiben das Jahr 1783 – ein Mann namens Gottfried Christian Voigt hingesetzt und die Opferzahl der Hexenverfolgung berechnet, denn daraus – so meinte er wohl – ließe sich gewiss ein Strick für die Kirche drehen. Voigt war Stadtsyndikus im Fürstentum Quedlinburg, also ein für den Staat als Rechtsgelehrter tätiger Jurist, und wie das mit Juristen so ist: Da werden die Dinge gerne mal im Dienste der Mandantschaft zurechtgebogen. Und Voigt verstand sich eben als Anwalt der Opfer und zugleich als Anwalt der Aufklärung. Er verstand sich auch als Historiker und schrieb eine Geschichte des Stifts Quedlinburg. Und eben jenen ominösen Aufsatz mit dem Titel Etwas über die Hexenprozesse in Deutschland, wo die Berechnung der Opferzahl ein zentrales Thema ist.

Wie ging er vor? Voigt hat zunächst die Akten der Hexenprozesse von Quedlinburg herangezogen und feststellt, dass es in der Zeit von 1569 bis 1598 in Quedlinburg 30 Hexenprozesse mit Todesurteil gab. Das ist die Basis seiner Hochrechnung. So, und jetzt geht es los. Die nachfolgenden Zitate stammen aus seinem besagten Aufsatz; ich übernehme sie unüberprüft von Wolfgang Behringer.

Zunächst einmal hält Voigt die 30 Todesurteile für zu wenig. Seine Erklärung: Die Akten sind unvollständig: „Ich will daher nur annehmen, daß in dem genannten Zeitraume von 30 Jahren zum wenigsten 40 Personen durchs Feuer als Hexen hingerichtet sind; ob ich gleich glaube, daß ich, ohne die Sache zu übertreiben, 60 annehmen könnte.“ Also, er verdoppelt einfach mal die Zahl der Opfer – immer, „ohne die Sache zu übertreiben“, versteht sich. Warum auch nicht – ist ja für einen guten Zweck. Weiterhin rechnet er aber mit einer Art Kompromiss zwischen den aktenkundigen 30 und den 60, die er für wahrscheinlich hält, nämlich mit 40, einen Zwischenwert (etwa auf Höhe des Goldenen Schnitts), den er ohne jeden Nachweis als Untergrenze bestimmt („wenigstens“).

Weiter im Text: „Nach diesem Verhältniß würden nun in jedem Jahrhunderte allher in Quedlinburg ungefähr 133 Personen als Hexen verbrannt worden sein.“ Also, Voigt rechnet proportional hoch auf ein Jahrhundert. 40 – warum auch immer 40, egal – in 30 Jahren, das macht dann in 100 Jahren: 133. Voilà. Das ist etwa so, als ob ich sagte: Es gibt in jedem Jahr in Deutschland 10.000 neue Fälle von Internetspielsucht. Also gab es seit der Reichsgründung vor 144 Jahren insgesamt 1,44 Millionen Fälle von Internetspielsucht. Logisch, oder?

„Seit der Zeit also, da Quedlinburg einen eigenen Staat ausgemacht hat, sind allhier in einem Zeitraum von 650 Jahren wenigstens 866 Menschen um der Hexerei willen zum Scheiterhaufen geführet worden.“ Voigt rechnet also 650 Jahre zurück, bis ins Hochmittelalter hinein, indem es – heute wissen wir es – so gut wie keine Hexenverfolgung gab; die begann erst im Spätmittelalter. Er nimmt die 133 und multipliziert sie mit 6,5 für die 650 Jahre Staatsgeschichte Quedlinburgs. So kommt er – nach Adam Riese völlig korrekt – auf 866 verbrannte Hexen in Quedlinburg.

Hier zeigt sich schon mal, wie gut es war, die 30 aus den Akten durch die 40 aus der Phantasie zu tauschen. Denn mit 30 gerechnet ergäben sich für den angenommenen Gesamtzeitraum „nur“ 649 verbrannte Hexen – 217 weniger als in Voigts Modellrechnung. Es bliebe freilich Unsinn, aber Unsinn in nicht ganz so dramatischem Ausmaß.

So, und jetzt kommt der eigentliche Hammer: Voigt rechnet seine Phantasiezahl von 866 auf ganz Europa hoch, proportional zur Einwohnerzahl: „In Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien und England, und überhaupt in dem Theile Europens, welcher seit dem Ausgang des 6. Jahrhunderts sich zur christlichen Religion bekannt hat, sind wenigstens 71 Millionen Einwohner anzunehmen. Wenn nun in einem so kleinen Bezirk Deutschlands, welcher kaum 11 bis 12000 Menschen fasset, in einem Jahrhunderte auf 133 Personen als Hexen hingerichtet sind; so beträgt dieses in der ganzen christlichen Kirche auf jedes Jahrhundert 858.454“.

Das stimmt rechnerisch (wobei Voigt auch hier den geringeren und damit für seine Diffamierungszwecke günstigeren Wert von 11.000 Quedlinburgern nimmt; bei 12.000 ergäben sich 786.917 Opfer), sachlich natürlich überhaupt nicht. Nicht nur wegen der Gleichsetzung von Europa und Kirche, nicht nur wegen der unterschiedslosen Behandlung der Länder des Südens (Spanien, Italien), in denen es so gut wie keine Hexenverfolgung gab (wegen der Spanischen bzw. der Römischen Inquisition), mit denen des Nordens (z.B. Deutschland), in denen eine massive Hexenverfolgung stattfand (ausgelöst vom Volk – der Verfolgungswille kam von unten -, betrieben von den Fürsten, die ab Mitte des 16. Jahrhundert, also in der Hochphase der Verfolgung, meist Protestanten waren, und keine Katholiken), sondern vor allem wegen der Hochrechnung selbst. Der Schluss vom Lokalerereignis auf die Verhältnisse in ganz Europa ist geradezu grotesk.

Aber es geht noch weiter. Schließlich gilt es mit einem Christentum und einer Kirche abzurechenen, das bzw. die seit dem 6. Jahrhundert, also seit elf Jahrhunderten, den Kontinent fest im Griff hat und überall pausenlos Hexen verbrennt. So fährt er fort: „und auf den von mir bezeichneten Zeitraum von elf Jahrhunderten 9 Millionen vierhundert zwei und vierzigtausend neunhundert vier und neunzig Menschen.“ Jetzt wissen wir auch, wie Anwälte ihr Honorar berechnen.

Im Ernst: Auf diesem Schwachsinn fußt die antiklerikale Propaganda des ach-so-aufgeklärten 20. Jahrhunderts, nicht nur die der Nazis, sondern auch die des Neopaganismus und des Feminismus. Bis in unsere Tage hinein.

So findet sich im Focus noch 2002 die Opferschätzung „von 100.000 bis zu mehreren Millionen“, während der Spiegel ein Jahr zuvor eine „500 Jahre andauernde Hexenverbrennung“ phantasierte, deren Ursache der „perverse Ungeist der Inquisition“ gewesen sei und die – wiederum ein Jahr zuvor im Spiegel nachzulesen – „über eine Million“ Opfer gezeitigt habe, diesmal wegen der „Frauenfeindlichkeit der Kirche“ (gemeint ist die katholische, welche auch sonst).

In einem Bericht über eine Ausstellung in Trier heißt es: „Europaweit sind laut Forschung 50.000 bis 60.000 Opfer zu beklagen, die zwischen der Mitte des 15. bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf christlichem Geheiß getötet wurden. Andere Quellen sprechen von 1 bis 9 Millionen, die Opfer der Hexenprozesse über die Jahrhunderte hinweg wurden.“

Klar, „andere Quellen“ sprechen davon. Aber sollte man der neusten wissenschaftlichen Forschung nicht ein größeres Gewicht einräumen als „anderen Quellen“? Dass das hier und jetzt (der Artikel ist aus dem Jahre 2014) immer noch nebeneinander gestellt wird, so als sei beides legitim zu glauben – 50.000 und 9 Millionen – ist extrem enttäuschend.

Die Website „Theologe.de“ [sic!] wartet mit einer besonders martialischen Beschreibung auf: „An Brutalität und sadistischer Grausamkeit war jedenfalls der Vernichtungskrieg der Päpste und ihrer Inquisitoren gegen die ‚Hexen‘ nicht mehr zu überbieten. Wahrscheinlich sind dabei mehr als drei Millionen Menschen, vor allem Frauen, bestialisch ermordet worden.“

Immerhin: Da waren’s nur noch drei! Punktabzug gibt’s aber für die Rolle, die den „Päpsten und ihren Inquisitoren“ zugedacht wird. Die waren nämlich in Wahrheit nicht die Betreiber der Verfolgung, sondern deren Verurteiler und (wo sie etwas zu sagen hatten – also nicht im Norden Europas nach 1530) deren Verhinderer.

Emma. Eine Frau, ein Wort. Die Gute schießt den Vogel ab: „Alles in allem wurden mindestens neun Millionen Frauen verbrannt. Es gibt sogar Schätzungen von 30 Millionen!“

Steht da. Abrufbar im Juli 2015. Ob das ernstgemeint ist, weiß ich nicht. Dass die Zahl nicht stimmt, die „9 Millionen“ nicht und die „30 Millionen“ erst recht nicht, das weiß ich hingegen schon. Im übrigen waren nicht nur Frauen die Opfer, sondern auch Männer, die als Zauberer verurteilt und hingerichtet wurden, geschätzt wird ihr Anteil auf 25 bis 30 Prozent. Regional waren Männer sogar deutlich in der Mehrheit: in Island waren 90 Prozent, in Estland 60 Prozent der Opfer Männer.

Richtig gaga ist jedoch das, was man auf einer Seite „Lehrer.Uni-Karlsruhe“ liest, wobei man gleich, nachdem man es gelesen hat, inständig hofft, dass die Seite weder etwas mit „Lehrer“ noch mit „Uni-Karlsruhe“ zu tun hat. Denn: „Die Hexenverfolgung von ca. 1450-1792 (europaweit) forderte Millionen von Opfern, von denen aber nur 200.000 schriftlich festgehalten wurden. Der Höhepunkt des Hexenwahns lag zwischen 1625 und 1630. Während dieser 5 Jahre wurde fast 1/20 der europäischen Bevölkerung auf dem Scheiterhaufen hingerichtet.“

Ähm. Also: Einer von 20? Das sind fünf von 100, richtig? Fünf Prozent. Das sind bei einer „europäischen Bevölkerung“ im Jahre 1625 von 90 Millionen (die Weltbevölkerung soll etwa 500 Millionen betragen haben, der Anteil Europas lag bei 18 Prozent) also 4,5 Millionen Verbrennungen. In fünf Jahren. Das wären fast 2500 Verbrennung täglich, ohne Pause an Sonn- und Feiertagen. Stimmt das? Kann das stimmen? Und: Stellt sich diese Frage eigentlich jemand, der so etwas aufschreibt?

Aber, wenn man meint, den Höhepunkt erreicht zu haben, sagt das Internet: „Ätsch!“ – und liefert Dinge wie diese: „Mindestens 9 Millionen Menschen wurden gefoltert und verbrannt, 80 Prozent davon waren Frauen.“ Das sei „der Preis der finalen Christianisierung Europas“. Dabei werde „die Zahl der Ermordeten bestritten und die meisten christlichen Historiker drücken sich äußerst beschönigend über die Inquisition aus“. Das „die Inquisition“ in einen Zusammenhang mit der Hexenverfolgung gestellt wird, lässt sich wohl zu meinen Lebzeiten nicht mehr ändern. Ich hoffe, die Menschen im 22. Jahrhundert, schätzen die Sache dann endlich richtig ein. Weiter: „Sie [‚die meisten christlichen Historiker‘] fälschten bewusst und absichtlich viele der Berichte; oder sie zerstörten sie im geheimen, wie etwa im Fall der katholischen Obrigkeiten.“ Ja, genau.

Und jetzt kommt unverfälscht die reine Wahrheit: „Wenn heutige Geschichtsrevisionisten behaupten, unter den Millionen Ermordeten der christlichen ‚heiligen‘ (!) Inquisition hätten sich in Europa weniger als 100.000 ‚Hexen‘ befunden, ist das eine Schutzbehauptung sowohl von Männern, die nicht ‚glauben‘ wollen, dass zivilisierte christliche Männer einen Massenmord an Frauen vollbrachten und wenn auch unaufgeklärte christliche Frauen die Millionenzahlen bezweifeln, geht das auf die christliche Hirnwäsche zurück, der wir seit diesem barbarischen Akt der Christianisierung alle ausgesetzt wurden. Niemals in der Geschichte der Menschheit haben ‚unzivilisierte, heidnische, anders- oder ungläubige‘ Männer – ein Verbrechen derartigen Ausmaßes an Frauen begangen wie christliche Fundamentalisten in Europa.“ Zitat Ende.

Da wäre dann so ziemlich alles drin, was es braucht für ein Wohlfühlwochenende als kirchenkritische Aufgeklärte: Inquisition, Indoktrination, Fundamentalismus. Und: Reißt euch derweil mal ein bisschen zusammen und bezweifelt nicht immer die Zahlen, Daten und Fakten der Aufklärung, „unaufgeklärte christliche Frauen“!

Noch etwas: Nicht alle Aufklärer (oder die, die sich dafür hielten) haben so über die Stränge geschlagen wie Voigt; Voltaire – alles andere als ein Kirchenfreund – sprach von hunderttausend Opfern – immer noch zu viel, aber schon wesentlich näher an der Wahrheit. Die liegt übrigens bei 50.000. Gottfried Christian Voigt trug einen pseudoaufklärerischen Anti-Klerikal-Schutzfaktor von 190 auf – und viele folgten ihm seither bereitwillig und völlig kritiklos. Einige legten sogar noch einen drauf. Mindestens 9 Millionen. 30 Millionen. 4,5 Millionen in fünf Jahren. Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man als Grund für diese tumbe Gutgläubigkeit der kirchenkritischen Geister jedweder ideologischen Herkunft wohl nur eines annehmen: Sie sind verhext. Aber so richtig.

(Josef Bordat)

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