Wir. Und die Anderen

25. August 2015


Alexander Kissler über Toleranz, die Verteidigung westlicher Werte und die defizitäre Menschenrechtsidee des Islam

Das Attentat auf die „Charlie Hebdo“-Redaktion in Paris hat den Publizisten Alexander Kissler sehr betroffen gemacht („Ich sehe die Welt mit anderen Augen seit dem 7. Januar 2015“), so sehr, dass er seine neue Weltsicht in Buchform gebracht hat. Der Text ist nun im Gütersloher Verlagshaus erschienen, Titel: Keine Toleranz den Intoleranten. Untertitel: Warum der Westen seine Werte verteidigen muss.

Zwei klare Thesen, die Kissler auf rund 170 Seiten entwickelt: 1. Toleranz findet ihre Grenze in der Intoleranz des Anderen. 2. Die eigenen Werte sind es wert, verteidigt zu werden. Kissler markiert also klar die Sollbruchstelle: Der Westen, insbesondere Europa (das Eigene, das Wir), steht für den Wert der Freiheit und für Toleranz, der Islam (das Andere, Fremde) für Unfreiheit und Inoleranz. Die Bedrohung kommt also von außen und trifft ein intaktes freiheitlich-demokratisches Gemeinwesen, das uns eignet.

Ist das so? Ist damit die richtige Gegenüberstellung gefunden, das entscheidende Duell um die Zukunft definiert? Ich denke nicht. Für mich besteht der Grundkonflikt zwischen einer säkularistischen Moderne und „ihren“ wesentlichen Grundrechten (dazu gehört das Recht auf Meinungsfreiheit, aber auch die Freiheit von Presse, Kunst und Wissenschaft) und einer tiefen kulturellen Irritation (dazu gehört der Umstand, dass es plötzlich wieder Menschen gibt, die auf ein bisher de facto bedeutungsloses Recht auf Religionsausübung wertlegen). Dass sich dieser Konflikt momentan insbesondere am Verhältnis des Westens zum Islam bzw. umgekehrt festmachen lässt, ist sicherlich richtig, so dass Kissler das Thema am geeigneten Exempel verhandelt. Aber diese konkrete Ausformung des Problems sollte nicht mit dem Problem selbst verwechselt werden, wenn es darum gehen soll, dieses Problem ursächlich zu verstehen und – soweit das möglich ist – zu beheben. Nicht, dass ich dem Verfasser den Vorwurf machen möchte, diese Differenz zu übersehen, doch scheint er mir nicht deutlich genug auf die Ebenen der Problematik hinzuweisen, so dass die Gefahr besteht, an dieser Stelle missverstanden zu werden.

Vor dem Hintergrund des prinzipiellen Problems, einen Ausgleich zwischen Moderne und Religion zu finden, muss die Toleranzlast gerecht austarriert werden: Nicht nur Religionsausübung unterliegt dem Toleranzgebot, auch die Meinungsäußerung, zumal jene, die sich mit Religion kritisch befasst. Toleranz ist insoweit keine Einbahnstraße, als ihr lediglich das fremde, eine säkularistische Gesellschaft irritierende religiöse Moment unterstehen soll, sondern auch der Umgang mit dem Fremden, Irritierenden muss sich an der Toleranz messen lassen.

Zwischen Ignoranz und einseitig autoaggressiver Schuldzuschreibung in der westlichen Welt, die ihre eigenen Medien und ihre eigenen Kulturschaffenden trifft, auf der einen Seite, und einer Ablehnung des Fremden, das zunächst einmal das Eigene herausfordert, auf der anderen Seite, gibt es mehr Raum als Kisslers pointierte Analyse nahelegt. So richtig die Forderung nach klaren eigenen Standpunkten in Rückbesinnung auf die europäische Ideengeschichte ist, so fragwürdig ist der skizzierte Gegensatz zwischen Erhaltungsauftrag (Westen) und Bedrohungspotential (Islam), nicht zuletzt, weil es immer schon zur euorpäischen Kultur gehört hat, das Andere ins Wir zu integrieren – das gilt nicht nur für die orientalischen Religionen, sondern auch für eine arabische Mathematik und Medizin sowie einen südamerikanischen Speiseplan.

Aber der Reihe nach. Welche Vorwürfe erhebt der Verfasser gegen den Westen? Ich sehe insgesamt fünf Thesen: 1. Der Islam wird stereotyp aus der Kritik genommen, was eine tiefere Analyse des Islamismus verhindert. 2. Toleranz ist in Wahrheit eine Melange aus Ignoranz, Selbstzensur und Zerknirschtheit und dient vor allem der Selbstbestätigung, nicht der Auseinandersetzung, ist also nach innen, nicht nach außen gerichtet. 3. Europa hat seine Geistesgeschichte vergessen, profitiert nicht mehr von den epochalen Ideen der Aufklärung. 4. Islamismus bedroht nicht nur die Freiheit der westlichen Gesellschaften, sondern führt insbesondere zu einer neuen Variante von Judenhass. Und: 5. Das Abendland hat keine Zukunft, wenn es sich die Punkte 1-4 nicht zu Herzen nimmt. Für jede dieser Thesen gibt es konkrete Anhaltspunkte und ausreichend Plausibilität. Kissler verweist auf Einzelereignisse wie auch auf soziale Entwicklungen, verschont dabei weder Kirche noch Staat. Der ganze Westen ist gemeint.

Im Gegensatz zu diesem geht der Verfasser hart mit dem Islam ins Gericht. Etwa mit der Vorstellung, die Menschenrechte seien auf den Koran zurückführbar, wie von islamischen Gelehrten behauptet wird. Kissler kritisiert diesen Anspruch zu Recht. Zwar lässt sich ein Teil der Argumentation (heteronomistische Statik und damit fehlende diskursive Entwicklungsmöglichkeit) auch gegen eine schöpfungstheologisch und christologisch begründete Menchenrechtsidee des Westens verwenden, aber in einem anderen Punkt wird das Defizit deutlich: die fehlende Universalität. Anerkennung verlangt einerseits Anschlussfähigkeit an den Glauben, anderseits eine universale Perspektive, die Nichtgleichglaubende einschließt. Ist diese im Christentum eher gegeben als im Islam? Es scheint so, denn Kissler zeigt, dass die islamischen Menschenrechte in erster Linie für Muslime gemeint sind. Es handelt sich also strenggenommen nicht um Menschenrechte, sondern um Muslimenrechte. Ähnliches ließe sich über den Geltungsbereich der Goldenen Regel sagen: Anders als im Judentum („Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst“, Lev 19, 34; „Was dir selbst verhaßt ist, das mute auch einem anderen nicht zu.“, Tob 4, 15) und im Christentum („Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen!“, Mt 7, 12) bezieht sich die Forderung nach Achtung des Anderen nur auf den „Bruder“: „Keiner von euch ist gläubig, solange er nicht für seinen Bruder wünscht, was er für sich selbst wünscht.“ (Hadith 13) „Bruder“ ist hier der muslimische Glaubensbruder, der sich wünscht, Moslem zu bleiben, und der Ungläubige, der sich wünscht, Moslem zu werden. Das ist zuwenig im Hinblick auf Freiheit und Toleranz.

Alexander Kisslers Buch ist mutig, es formuliert das, was es fordert: einen klaren Standpunkt. Es hält die gewählte Dichotomie ohne Reibungsverluste durch, wenn auch um den Preis plakativer Zuspitzungen. Was ihm fehlt, ist das Eintreten für die Notwendigkeit, ein feines Gespür für die Grenzen der Meinungsfreiheit zu entwickeln, das nicht vorschnell als Neigung zu Selbstzensur und Zeichen der Schwäche diffamiert, sondern als ein Akt der Klugheit begriffen werden sollte, insoweit damit auch die Grenzen der Religionsfreiheit systemimmanent begründet werden können. Es braucht dann nicht den Gegensatz zwischen „West“ und „Rest“, es braucht keine „Lex Islam“, sondern „nur“ die gleichermaßen an alle gerichtete Forderung, die jeweilige Freiheit des Anderen zu achten. Ist das schon die Überdehnung des Toleranzbegriffs, die Kissler uns attestiert?

So sehr also Kisslers Forderung, den Intoleranten nicht zu tolerieren, fraglos zuzustimmen ist, so sehr muss differenziert werden, wer zuvor welche Toleranz aufzubringen hat. Zudem gehört ein Begriff in den Diskurs, der jede Form von Freiheit – der Meinung oder der Religion – in ihre Schranken weist: die Menschenwürde. Freiheit selbst ist nichts Absolutes (auch, wenn sie seit Mitte Januar bisweilen dazu erklärt wird), sie hat sich vielmehr dem Absoluten zu unterstellen. Und das Absolute, das Unhintergehbare, das Unantastbare ist die Würde des Menschen. Es gilt daher, um zum meiner Ansicht nach eigentlichen Konflikt zurückzukommen, zwischen Kritik und Diffamierung von Religion im Namen der Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit zu unterscheiden.

Auch mich hat das Attentat auf die „Charlie Hebdo“-Redaktion betroffen gemacht. Ich komme allerdings – ohne die Opfer beschuldigen und die Täter entschuldigen zu wollen – in der Zuweisung der Toleranzlast zu weit weniger eindeutigen Ergebnissen. Gerade deshalb schätze ich Alexander Kisslers Debattenbeitrag.

Bibliographische Angaben:

Alexander Kissler: Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss.
Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2015.
184 Seiten, 17,99 Euro.
ISBN 978-3-579-07098-8.

(Josef Bordat)

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