Die andere Hälfte

28. Dezember 2015


Die Halbwahrheit ist die hässliche Schwester der glatten Lüge. Habe ich mal irgendwo gelesen oder mir gerade ausgedacht. Ich weiß es nicht. Nicht mal zur Hälfte. Was ich weiß: Halbwahrheiten entstehen insbesondere durch das bestens eingeübte Ausblenden all dessen, was gegen die halbwahre These spricht. Die wird dadurch in der Wahrnehmung ganzwahr, obgleich sie nur halbwahr ist. Von wahrer Meisterschaft gezielten Weglassens zeugt ein Artikel auf Spiegel Online, der sich mit der Kathedrale von Córdoba befasst, die mal eine Moschee war und davor eine Basilika und davor eine römischer Tempel und davor… Aber der Reihe nach!

Zunächst: Bevor man im Stile von U-Bahn-Gatiszeitungen mit „Irrsinn“ titelt, sollte man sich vielleicht fragen, ob man den Sinn nicht unter Umständen einfach übersehen hat. Zumal „Kirche gehört jetzt der Kirche“ sich nur unter ganz bestimmten Umständen mit „Irrsinn“ zusammefassen lässt. Wer die Kirche nicht mit jeder Faser seines Daseins hasst, wird erst mal so reagieren: „Ja, und? Wem denn sonst?“ Da das mit dem antiklerikalen Kritikpotential bei Spiegel Online-Artikeln aber vorausgesetzt werden kann, ist das eben was? Genau: „Irrsinn“. Um zu wissen oder zumindest zu erahnen, auf welchen Fehlannahmen der „Irrsinn“ fußt, müssen wir uns doch die Zeit nehmen, etwas genauer hinzuschauen.

Der Artikel beginnt verheißungsvoll: „Durch ein abstruses Gesetz konnte sich die katholische Kirche in Spanien eine der größten Sehenswürdigkeiten des Landes unter den Nagel reißen: die Mezquita-Kathedrale. Nun machen Bürger und Wissenschaftler aus aller Welt ihrer Empörung Luft.“ Abstrus, unter den Nagel reißen, katholische Kirche. Und: Alle Welt ist empört, Wissenschaftler. Im Fußball nennt man so was die „taktische Aufstellung“. Auf der einen Seite eine katholische Kirche, die sich mit Hilfe abstruser Gesetze etwas unter den Nagel reißt. Auf der anderen Seite empörte Wissenschaftler. Und: alle Welt. Nicht mal Charles Dickens hätte die Lastenverteilung in Sachen Gut und Böse so übersichtlich gestalten können.

Um das Spiel durchzuhalten, muss der Verfasser nachfolgend etwas an der historischen Schraube drehen, was sich dann so ausnimmt: „Damals entriss die Reconquista den Arabern die iberische Halbinsel, und die Moschee wurde zur katholischen Kirche geweiht.“ Mal abgesehen von den leichten sprachlichen Mängeln – „entriss die Reconquista den Arabern die iberische Halbinsel“? Geht da nicht einiges durcheinander? Oder vielmehr: Alles? Zumindest müsste man doch erklären, wie die Araber eigentlich dorthin gelangten, auf „die iberische Halbinsel“. Und ob sie dabei nicht der dort lebenden, christlichen Bevölkerung auch das eine oder andere „entrissen“ haben. Schon allein das Wort Re-conquista gibt dem sprachkundigen Bürger (ganz ohne Wissenschaftler zu sein) jeden denkbaren Aufschluss über die Abfolge der Ereignisse: Einer Rück-Eroberung geht normalerweise eine Eroberung voraus, so wie eine Re-Aktion auf eine Aktion folgt. Sprachkunde scheint aber keine Voraussetzung dafür zu sein, um bei Spiegel Online kirchenkritische Artikel zu schreiben.

Aber gut, bleiben wir nur mal bei der Baugeschichte der Mezquita, die dem Verfasser offenbar nicht bekannt oder aber völlig egal ist. Wenn wir schon darüber reden, wer hier wem was „entrissen“ hat, sollten wir nicht ganz außer Acht lassen, dass es vor der Moschee eine Kirche gab und jene aus dieser erbaut wurde. Das heißt: Nicht nur auf dem Platz, auf dem sie stand, sondern unter Verwendung der Kirche, die kurzerhand zu Baumaterial zusammengestaucht wurde. Muss man nicht wissen, schadet aber nicht. Denn ohne dieses Wissen erscheint die Mezquita, die nach Verfasserangaben in Córdoba alle nur „Mezquita“ nennen, „auch die Katholiken“ (und nicht etwa „Catedral de la Asunción de Nuestra Señora“), als eine den armen Arabern „entrissene“ Moschee, bestenfalls als eine Art interreligiöses Bauwerk, in welchem die Kathedrale jedoch „wie ein Fremdkörper wirkt“. Klar. Die ist ja auch katholisch.

Doch – wie gesagt – mit der Geschichte hat es der Verfasser nicht so genau. Es wird konsequent die Seite ausgeblendet, die nicht ins Bild passt. In die „abstrusen Verstrickungen“, die der Verfasser in der spanischen Rechtsgeschichte ausgemacht haben will, passt freilich auch das generelle Verhältnis von Katholizismus und Faschismus, von Kirche und Franco: „Mit dem praktischen Gesetz zeigte der Diktator sich damals den Bischöfen erkenntlich, die ihn im Bürgerkrieg und beim Aufbau der faschistischen Diktatur in Spanien unterstützten.“

Wer sagt, die Katholische Kirche in Spanien habe Franco unterstützt, darf nicht vergessen, dass dies umgekehrt noch viel mehr und viel eher stimmt: Franco hat die Katholische Kirche in Spanien unterstützt. Das war damals nötig. Denn was leider regelmäßig zu erwähnen vergessen wird, ist die Tatsache, dass die Katholische Kirche im Bündnis mit Franco zunächst einmal Schutz suchte, um zu überleben. Denn es ging für die Kirche vor dem Bürgerkrieg tatsächlich ums nackte Überleben – nicht nur im Hinblick auf die Institution, sondern auch im Hinblick auf Bischöfe, Priester, Ordensfrauen und Seminaristen. Die Ausrufung einer laizistischen Republik im Jahre 1931, die Franco ab 1936 bekämpfte, war nämlich der Auftakt einer acht Jahre währenden Verfolgung der Katholischen Kirche in Spanien, in deren Verlauf 7000 Geistliche ermordet und 20.000 Kirchen zerstört wurden. Sie knüpfte an den spanischen Antiklerikalismus des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts an, wurde rasch unfassbar grausam und zwang die Kirche schließlich, sich an die Seite des Feindes ihrer Feinde zu stellen. Und das war nun mal Franco. Ein Freund muss er deswegen noch lange nicht gewesen sein. Also: Geschichte lebt von Zusammenhängen. Man sollte die Dinge in ihrer Kausalität erzählen.

Aber nicht nur die Geschichte wird auf den Kopf gestellt – auch die Gegenwart muss dran glauben. Und Gegenwart heißt: Geld. „Der Mezquita-Skandal steht beispielhaft für hunderte geheime Inbesitznahmen durch die Kirche“. Sagt der Verfasser. Skandal und geheim gehören einfach in einen Satz über „Inbesitznahmen durch die Kirche“. Zudem sind die „Einnahmen zugleich üppig“: „Kirchensteuern“ zum Beispiel. Sagt der Verfasser. Dabei fällt auf, dass man selbst beim Dreschen hohler Floskeln etwas aufpassen muss, über welches Kirchenfinanzierungssystem man gerade herzieht. In Spanien gibt es nämlich keine Kirchensteuer. Die Finanzierung läuft über ein Optionsverfahren: Jeder Steuerpflichtige zahlt einen bestimmten Anteil seiner Einkommensteuer automatisch an soziale Einrichtungen des Staates, es sei denn, er möchte diesen Anteil der Kirche zukommen lassen. Dann muss er das bei der Steuererklärung explizit angeben. Das Geld fließt dann in einen Fonds, aus dem die spanische Bischofskonferenz Mittel erhält.

Und bevor man Wörter wie „milliardenschwer“ in Bezug auf die Kirche in Spanien benutzt, sollte man sich auch erst einmal über die finanzielle Lage in den spanischen Diözesen informieren. Möglichst bei diesen selbst – und nicht bei ausgesuchten „Experten“ und „Organisationen“, die sich durch alles Mögliche auszeichnen; Sachverstand ist nicht dabei. Die Katholische Kirche in Spanien hat jüngst ihre Zahlen für 2013 offengelegt, die einen Jahresetat von 250 Millionen Euro ausweisen (etwa acht Euro pro spanischem Katholiken). Zum Vergleich: Der FC Barcelona hatte zuletzt ein Saison-Budget von etwa 470 Millionen Euro. Der Verfasser zitiert dennoch unkritisch eine Hausnummer von „elf Milliarden Euro“ Einnahmen – pro Jahr. Die Sprechblase mit den „milliardenschweren Privilegien“ sollte spätestens dann zerplatzen, wenn man sich vor Augen führt, dass das Erzbistum Barcelona im Jahr 2010 beispielsweise rund 30.000 Euro an direkten Subventionen erhielt (bei Gesamteinnahmen von 16 Millionen Euro; wir redeten also bei 0,2 Prozent des Budgets von „Privilegien“). Und: Eine Milliarde, das sind tausend Millionen. Neun Nullen, nicht drei oder vier. Was soll’s.

Dass die ganze Angelegenheit als reine Wirtschaftssache interpretiert wird, kann man religionsfernen Zeitschriften, die von religionsfernen Mitarbeitern religionsferne Experten befragen lassen, kaum noch negativ auslegen. Nur: So wenig Gespür dafür, was es heißt, eine Kirche umzuwandeln in ein interreligiöses Gotteshaus, das unterbietet selbst den gewohnten Standard deutlich. Randinformation: „Interreligiös“ hört sich für areligiöse Menschen toll an, ist es für religiöse Menschen (gleich welcher Provenienz) aber nicht. Dass die Frage der Nutzung, eine Auseinandersetzung, die im übrigen ein alter Hut ist (nichts „Skandalöses“ und „Geheimes“ weit und breit), in der Darlegung auf Spiegel Online zugunsten von Rechts- und Eigentumsfragen zurückgestellt wird, ist an sich schon ein Armutszeugnis für unsere Kultur. Es zeigt, dass es außerhalb des Materiellen nichts mehr gibt, das der Rede wert zu sein scheint. Dass der materielle Rest dann auch noch propagandistisch ausgeschlachtet wird, setzt der kenntnisarmen Dürftigkeit die Krone auf.

Aber Mut hat er, der Verfasser. Das muss es selber eingestehen, denn kurz nachdem er konstatiert, dass es wohl „niemand zu schätzen wagt“, wie viele Immobilien die Kirche in Spanien besitzt, „wagt“ es kein geringerer als der Verfasser selbst: „Schätzungsweise 100.000 Gebäude“. Wie gut, dass keine Belege braucht, wer bei Spiegel Online schreibt. Jedenfalls nicht, solange es gegen die Kirche geht. Und ihre Privilegien.

Und diese Kirche wagt es dann auch noch, sich zu wehren, ja, „sich mit Händen und Füßen“ zu verteidigen, in Sonderheit: „Erzbischof Demetrio Fernández ignoriert die Unterschriften der Petition“. Das muss man sich mal vorstellen: Da empören sich „Wissenschaftler“ aus „elf Ländern“ (also aus „aller Welt“), da bilden sich Bürgerinitiativen und sammeln fleißig Unterschriften, da gibt es Petitionen – und Erzbischof Demetrio Fernández ignoriert das einfach! Das sollten andere mal machen, einfach so Petitionen ignorieren! Das eigentlich Verblüffende ist hingegen folgendes: „eine Petition ignorieren“ wird hier tatsächlich unter „sich mit Händen und Füßen verteidigen“ subsummiert.

Soll man darüber lachen? Ich persönlich finde es eher ernüchternd, einen Text zu lesen, dessen Angaben falsch bis halbwahr und dessen Einlassungen geschichtsvergessen und tendentiös zugespitzt sind. Allerdings erreicht Spiegel Online damit wohl eine besonders enge Kundenbindung: Das Niveau des Artikels antizipiert das Niveau der zu erwartenden Kommentare. Ja, jetzt hätte auch ich es bald gesagt: Irrsinn.

(Josef Bordat)