Lex und Privilex

3. April 2013


In Österreich gibt es ein „Volksbegehren gegen Kirchenprivilegien“, über das einige geschätzte Kollegen bereits berichtet haben. Das gibt mir die Gelegenheit, ein paar grundsätzliche Bemerkungen zur Lage in Deutschland zu machen, Dinge anzusprechen, die nicht gerade neu sind, aber dennoch nahezu unbekannt zu sein scheinen.

I.

„Kirchenprivilegien“ – was soll das sein? Grundsätzlich werden darunter wohl drei Dinge gefasst:

1.) dass der Staat die Kirche für geschehene Enteignungen entschädigt,
2.) dass der Staat die Kirche für soziale und karitative Dienste an der Gemeinschaft entlohnt,
3.) dass der Staat für die Kirche das Inkasso der Kirchensteuer übernimmt.

Bei genauerer Betrachtung erkennt man, dass dies keine Vor-Rechte, sondern Rechte sind, nicht nur formal, weil die Vorgänge 1 bis 3 auf gesetzlicher oder vertraglicher Grundlage geschehen, sondern auch material, weil sie dem Gemeinwesen dienen und jeder vergleichbaren Einrichtung – unabhängig von ihrer weltanschaulichen Ausrichtung – zustehen.

Dennoch fand der Begriff „Privilegien“ im Zusammenhang mit den Rechten der Kirche – soweit es sich eben um Rechte der Kirche handelt – Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch, oder soll es finden, unterstützt von Wikipedia, die etwa über die „Humanistische Union“ sagt, sie vertrete eine „kritische Haltung zu kirchlichen Privilegien“, ohne den Begriff als tendenziös zu markieren oder zumindest als Wahrnehmung der Humanistischen Union, während sich bei Artikeln zu kirchlichen Themen immer mal ein ordnendes „angeblich“ oder „sogenannt“ einschleicht, um sich von weltanschaulich präjudizierten Positionen abzugrenzen. Das Streben nach enzyklopädischer Neutralität kennt offenbar Grenzen. Es lohnt sich wohl tatsächlich, selber etwas genauer hinzuschauen.

Ad 1. Die Staatsleistungen im engeren Sinne (die Dotationen) sind dem Wesen nach Ausgleichszahlungen für Enteignungen von Kirchenbesitz aus der Zeit der Säkularisierung. 1803 war die Enteignung der geistlichen Fürstentümer in einem Vertrag, dem Reichsdeputationshauptschluss, festgelegt worden. Damals ging der Kirche großer Grundbesitz verloren. Als Entschädigung dafür wurden regelmäßige Zahlungen an die Kirche festgelegt und später vertraglich bestätigt. Kündbar sind diese Verträge zwischen Staat und Kirche nur einvernehmlich, also mit Zustimmung sowohl des Staates als auch der Kirche.

Im Klartext: Das, was heute an Dotationen gezahlt wird, ist eine Art Pacht oder Miete für Grund und Boden, der gegen den Willen der Kirche enteignet wurde. Wenn man also von staatlicher Seite die Zahlungen einstellen will, muss man im Gegenzug der Kirche ihre Liegenschaften zurückgeben. Alles andere wäre rechtswidrig. Denn es kann in einer freiheitlichen Ordnung, die das Eigentum achtet, keine entschädigungslose Enteignung geben. Dies wurde in Deutschland verfassungsrechtlich seit dem 19. Jahrhundert so gesehen. Somit sind die Zahlungen ein Ausgleich für geschehene Enteignung im Rahmen der Säkularisation, deren Rechtsgrundlage Verfassungsrang hat.

Es handelt sich also nicht um Almosen des Staates an die Kirche oder um „Privilegien“, sondern um verfassungsmäßig garantiertes Recht, auf Zahlungen, auf die wegen eines Rechtsbruchs ein Rechtsanspruch steht. Und zwar zu Recht. Dass der Rechtsbruch lange her ist, kann kein Argument sein, zumal dann nicht, wenn die Vereinbarung zum Ausgleich ohne Befristung erfolgte, was der Fall ist. Dass viele Menschen heute den historischen und rechtlichen Zusammenhang nicht kennen und auch nicht mehr darüber aufgeklärt werden und sich infolgedessen ein völlig falsches Bild etabliert hat, ist zwar schade, ändert aber nichts an der Rechtslage und sollte auch nicht dazu führen, die Rechtsposition von Seiten der Kirche aufzugeben, nur um das Image aufzubessern. Noch einmal: Die Dotationen sind kein Geschenk, sondern eine geschichtlich begründete und rechtlich garantierte Schuld des Staates gegenüber der Kirche.

Ad 2. Der Staat subventioniert aus Steuern viele Dinge. Sport, Kultur, Parteien, Unternehmen, Banken, Gewerkschaften, weltanschauliche Vereine und Verbände – und die Kirchen. Zunächst erstaunt die Tatsache, dass es lediglich kritisch gesehen wird, wenn der Staat die Kirche bei den Aufgaben unterstützt, die sonst ihm selbst anheimfielen, die Tatsache, dass der Staat auch Kunst, Kultur, Sport, Medien und andere gesellschaftliche Kräfte unterstützt, hingegen nicht. Das ist unverständlich, auch wenn der Kritiker selbst nicht Mitglied der Kirche ist. Der Steuerzahler finanziert immer auch Dinge, die er selbst nicht in Anspruch nimmt. Mit den Steuern, die ich zahle, werden viele Angelegenheiten finanziert, die ich nicht will. Das ist das Wesen der Gemeinschaft.

Der Staat fördert Einrichtungen, weil und soweit er der Ansicht ist, die geförderten Einrichtungen stärken das Gemeinwohl. Soweit die Kirche erzieherisch, pflegerisch, medizinisch, musisch, künstlerisch tätig ist, sieht der Staat dieses Kriterium offenbar erfüllt und fördert die entsprechenden Aktivitäten der Kirche finanziell (freiwillige Staatsleistungen, die nicht mit den verpflichtenden Entschädigungszahlungen unter Punkt 1 verwechselt werden dürfen). Dies tut er, soweit er darin Werte vertreten sieht, die auch der Staat vertritt bzw. laut Verfassung (Grundgesetz) vertreten muss (etwa Sozialstaatlichkeit, eine Fundamentalnorm, also ein Wert).

Ein weltanschaulich neutraler Staat darf nicht mit einem wertneutralen Staat verwechselt werden. Es ist ein großer (wenngleich oft anzutreffender) Irrtum, dass der Staat alle Religionsgemeinschaften gleich (gleich gut oder gleich schlecht) behandeln muss, um seiner weltanschaulichen Neutralität gerecht zu werden. Das ist nicht der Fall. Es kann nämlich durchaus sein, dass Religionsgemeinschaft X staatliche, d. h. verfassungsmäßige Werte vertritt, während dies bei Religionsgemeinschaft Y nicht gewährleistet ist. So kann der Staat X gegenüber Y besser stellen (etwa steuerlich), weil und soweit mit der Besserstellung die gesellschaftliche Umsetzung der Werte des Staates befördert wird. Das hat mit Glaubensinhalten nur insoweit zu tun, als X offenbar eine Glaubenslehre vertritt, die mit den qua Verfassung zu befördernden Werten des Staates kompatibel ist und Y nicht. Dies galt bisher für das Christentum und die Kirche als unbestritten.

„Der Staat“, so schreibt die Deutsche Bischofskonferenz auf ihrer Website, „subventioniert nicht die Kirche als Religionsgemeinschaft. Wo der Kirche staatliche Gelder zufließen, wird im gemeinsamen Interesse von Staat und Kirche z. B. das soziale oder kulturelle Engagement der Kirche unterstützt. Viele soziale Dienstleistungen können nur mit Hilfe eines kirchlichen Eigenanteils realisiert werden (z. B. Kindertagesstätten oder Hilfen für Menschen in besonderen Lebenslagen, wie wohnungslose Menschen). Oft mobilisieren kirchliche Dienste Kräfte für die Allgemeinheit, vor allem in Form von ehrenamtlicher Arbeit, aber auch von Spenden. Diese Leistungen entlasten den Staat erheblich und stellen eine beachtliche Leistung der Gläubigen an die Gesamtgesellschaft dar.“

Die Frage ist zudem, was passiert, wenn etwa die Pflege- und Sozialdienste „Caritas“ und „Diakonie“ zusammenbrechen weil ihnen die Mittel fehlen. Kann der Staat sie auffangen? Zu welchen Kosten? Liegen diese höher oder niedriger als die Kosten der „wohlwollenden Neutralität“ (Di Fabio), i. e. sozialpolitischen Zusammenarbeit von Staat und Kirche? Die Förderungswürdigkeit ergibt sich nämlich nicht nur qualitativ aus dem Bedarf, sondern auch quantitativ aus den Opportunitätskosten für den Ersatz von kirchlichen Beiträgen zum Gemeinwohl durch den Staat. Hier zeigt es sich, dass eine Kompensation überproportional hohe Kosten aufwürfe, so dass es besser ist, die vorhandene Struktur zu unterstützen. Das gilt übrigens nicht nur für die Kirche als Trägerin, sondern auch dann, wenn ein Krankenhaus von der Jüdischen Kultusgemeinde oder ein Kindergarten vom Humanistischen Verband betrieben wird.

Die vielfach porträtierte „Made im Speck“ entspricht übrigens in keiner Weise dem Alltag kirchlicher Arbeit im sozial-karitativen Bereich. Wer das nicht glaubt, sollte sich vor Ort überzeugen und mal einen Nachmittag in einem Diakonieladen oder einer Suppenküche aushelfen. Und noch etwas: Überall kommt es zu Kürzungen staatlicher Zuschüsse. Die Kirche ist davon nicht ausgenommen. In Berlin ist z. B. die Obdachlosenambulanz der Caritas am Bahnhof Zoo betroffen. Allein die hohe Spendenbereitschaft von Privatpersonen hält die Einrichtung am Leben.

Ad 3. Zunächst auch hier: Der Eindruck, der bisweilen von Gegnern der Kirchensteuer erweckt wird, die Kirche „schwimme im Geld“, ist völlig falsch. Bei rund 24 Mio. Katholiken und rund 4 Mrd. Euro Kirchensteuer jährlich kommen auf jeden Katholiken 167 Euro pro Jahr, das sind 13 Euro im Monat. So schmelzen die „Unsummen“ schnell auf den Betrag einer Mitgliedschaft im Kegelclub zusammen.

Dabei braucht die Kirche die Steuer, denn: „die katholische Kirche finanziert sich ganz überwiegend aus der Kirchensteuer“; je nach Bistum werden zwischen 60 und 90 Prozent der Kosten mit Kirchensteuermitteln gedeckt. Die Unterdeckung wird über Staatsleistungen, Vermögenserträge (Zinsen) und Spenden ausgeglichen. Unser Pfarrhaushalt etwa kann trotz der „Milliarden an Kirchensteuern“ nur mit regelmäßigen Spenden („freiwilliges Kirchgeld“) engagierter Gemeindeglieder ausgeglichen werden. Das ist die Realität.

Es geht aber oft gar nicht mal um die Kirchensteuer selbst (eine allgemeine Kultur- oder Sozialsteuer wird ja in einschlägigen Kreisen ebenso kritisch gesehen), sondern um die Dienstleistung des Staates, den Kirchensteuereinzugsservice. Die Kritik richtet sich dabei vor allem an die Adresse der Katholischen Kirche, obwohl auch andere Religionsgemeinschaften in diesem Sinne von der staatlichen Finanzverwaltung unterstützt werden (z.B. die Jüdischen Gemeinden, die eine Kultussteuer von ihren Mitgliedern erheben).

Auch diese Kritik geht an der Realität vorbei. Das Verfahren stellt nämlich nach einhelliger Meinung das dar, was man in Unternehmensberaterkreisen gerne eine „Win-Win-Situation“ nennt. Die Kirche spart sich administrative Aufwendungen, die gut 15 Prozent der Kirchensteuer verschlingen würde. Der Aufbau eines eigenen „Kirchenfinanzamts“ wäre ein bürokratischer Irrsinn, der Ressourcen verschwenden würde, die an anderer Stelle dringend gebraucht werden. Die Kirche weiß dies, der Staat auch. Daher hilft er der Kirche an dieser Stelle ohne Mehraufwand. Denn der Staat hält ja bereits eine effizient arbeitende Steuerverwaltung vor, die die Kirche, wenn man so will, nur mitnutzt, ohne dass sich der Aufwand für den Staat erhöhte. Kirchensteuereinzug – das ist ein Datensatz im Computer, der bei einigen Bürgern eine Berechnung auslöst. Das ist alles. Die Grenzkosten liegen praktisch bei Null.

Die Kirche ist dafür dankbar und zahlt eine Verwaltungsgebühr, die zwischen 2 und 4,5 Prozent des Aufkommens der Kirchensteuer liegt (je nach Bundesland bzw. Oberfinanzdirektion), das sind im Mittel der letzten Jahre bei rund 4 Mrd. Euro Kirchensteuer 120 Millionen Euro jährlich – allein aus der Katholischen Kirche. Seit der Vereinigung (1990) hat der Staat für seine Inkasso-Tätigkeit rund 5 Mrd. Euro eingenommen.

Die „Eintreibung“ der Kirchensteuer durch den Staat ist also nicht nur ressourcenschonend, sondern auch eine gut bezahlte Dienstleistung. Sie bietet beiden Seiten Vorteile und ist damit eine Form hochvernünftiger Zusammenarbeit von Kirche und Staat im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung. Man benötigt große ideologische Scheuklappen, um dies anders sehen zu können.

Noch kurzsichtiger ist der Einwand, die Kirchensteuer mindere die Steuereinnahmen, weil die gezahlte Kirchensteuer als Sonderausgabe vom Gesamtbetrag der Einkünfte abziehbar ist und damit das zu versteuernde Einkommen reduziert. Das stimmt zwar, nur wäre ja auch die Alternative – eine direkte Spende an die Kirchengemeinde – abzugsfähig, mit gleicher Wirkung für die Steuerlast. Der Einwand wäre erst dann sinnvoll, wenn man den Kirchen zugleich die Gemeinnützigkeit entzöge, um Zuwendungen an Gemeinden steuerlich zu neutralisieren. Alles andere ergibt keinen Sinn.

II.

Noch einige Bemerkungen zur Methodik der Kritiker der unter Punkt 1 bis 3 behandelten Kirchenrechte: Nicht nur, dass sie geltendes Recht übergangen wissen wollen und durch tendenziöse Darstellung und das Verschweigen von Fakten eine Stimmung erzeugen wollen, die sich nicht erzeugen ließe, erwähnte man besagte Fakten, nein, sie suggerieren auch noch, das Volk stünde geschlossen hinter ihnen und geben sich nicht selten einen quasi-offiziellen Anstrich.

Beispiel: das „Informationsportal Staatsleistungen“. Es gibt sich trotz der Tatsache, vor allem durch Halbwahrheiten und Desinformation zu glänzen, nicht nur einen neutralen Namen („Informationsportal“), sondern suggeriert auch noch einen offiziellen Charakter, etwa dadurch, dass ein Logo verwendet wird (vgl. links unterhalb des Header), das bei einer oberflächlichen Leserschaft durchaus Erinnerungen an das bekannte Logo von Bundesbehörden wecken könnte (vgl. links oben). Das ist rechtlich hoffentlich unbedenklich, zumal ja auch das Hoheitszeichen (der Bundesadler) nicht gleich mitkopiert wird, hat aber trotzdem einen gewissen – wie soll ich sagen – Assoziationswert. Man könnte als gemeiner User meinen: „Aha, amtliche Info! Endlich mal was Offizielles!“ Ich nehme mal zu Gunsten der Betreiber der Seite (laut Wikipedia: Humanistische Union und Giordano Bruno Stiftung, laut Impressum: Dr. Carsten Frerk und die Humanistische Union) an, das dieser bedauerliche Irrtum dann aber wirklich nicht in der Absicht der Betreiber gelegen hätte. Ich meine ja, dass Irritationen schon deshalb nicht auftreten werden, weil die mumaßliche Klientel dieser „Informationsseite“ vorrangig aus aufmerksamen Hochintelligenten besteht, die sich in ihrem qualifizierten Urteil seit jeher durch besonderes Differenzierungsvermögen auszeichnen.

Dass nicht das ganze deutsche Volk geschlossen hinter den Betreibern steht, wird schnell klar, wenn man bedenkt, dass die Betreiber-Organisationen im Grunde Kleingrüppchen mit einigen Hundert Mitgliedern sind, deren mediale Präsenz weit über ihre tatsächliche Bedeutung in der und für die Gesellschaft hinausragt. Zwar polarisiert der Laizismus dieser Einrichtungen, aber er findet in der Bevölkerung kaum Zustimmung. Ein Vorschlag im Rahmen der Initiative Dialog über Deutschland mit dem Titel „Kirche und Staat vollständig trennen (z. B. Kirchensteuer)“ erreicht zwar nach 14 Monaten Kampagnenarbeit über 120 Kommentare, die sich zu einer kontroversen Debatte fügen, aber nicht einmal 3000 Unterstützer-Stimmen.

Man kann über alles reden – auch über die Kirchensteuer. Die Kritik am Verhältnis von Kirche und Staat – auch die theologische – verdient Beachtung. Allerdings sollte die Debatte sachlich und faktenbasiert verlaufen. Und zu den Fakten gehört eben auch, dass es sich bei dem, was zwischen Staat und Kirche läuft, um ein gesetzlich, vertraglich, mithin rechtlich geregeltes Miteinander zum Wohle aller handelt. Gut: fast aller. Einen Laizismus als Basis des Staat-Kirchen-Verhältnisses lehne ich entschieden ab. Nicht, weil ich Angst um die Kirche hätte (98 Prozent der Katholiken kommen nicht aus Deutschland, zudem zeigt das Beispiel USA, dass auch eine fortschreitende formale Trennung von Religionsgemeinschaften und Staat die Religion nicht aus der Öffentlichkeit verdrängen kann, im Gegenteil), sondern, weil ich mir Sorgen um den Sozialstaat mache, vor allem aber um die Leute, die zu uns in die Pfarrei kommen oder regelmäßig zum gegenüberliegenden Diakonieladen gehen, weil sie sonst überall abgewiesen werden.

(Josef Bordat)

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