Wenn Gretchen fragt, muss der Staat antworten

9. Juli 2011


Der Verfassungsrichter Udo Di Fabio über Gewissen, Glaube und Religion

Kreuz und Kopftuch – an diesen symbolischen Artefakten hat sich in den letzten Jahren ein Streit um die Bedeutung der Religionsfreiheit entzündet. Ursprünglich (das heißt konkret: im 17. Jahrhundert) als rechtlich verbindliche Option eingeführt, einer der christlichen Konfessionen anzugehören (insoweit kann sie aus heutiger Sicht eher als Instrument zur Befriedung des Konfessionskonflikts im Land der „Religionszweiheit“ angesehen werden), hat sich Religionsfreiheit im Zuge der Säkularisierung immer weiter zu einem Abwehrrecht gegen Religion und Kirche gewandelt. Religionsfreiheit scheint immer weniger als positive Freiheit zu, sondern immer mehr als negative Freiheit von betrachtet zu werden – so legen es zumindest diejenigen aus, die sich von Kreuz und Kopftuch belästigt fühlen. Die Frage, die Verfassungsrichter Udo Di Fabio im Untertitel seines Buches Gewissen, Glaube und Religion stellt, ist also berechtigt: „Wandelt sich die Religionsfreiheit?“

Die Frage lässt sich im Durchgang durch die Rechtsgeschichte der letzten vier Jahrhunderte nur bejahen. Doch gegen den Durchmarsch zum reinen Abwehrrecht setzt sich Di Fabio zur Wehr. Aus gutem Grund, denn individuelle Freiheitsrechte garantieren immer die Freiheit zur öffentlichen Ausübung, niemals erschöpfen sie sich bloß in der Freiheit zur Abstinenz vom Gegenstand. Eine Meinung haben zu dürfen, impliziert das Recht, sie auch öffentlich zu äußern, ein Gewissen haben zu dürfen, das Recht, ihm im Zweifel auch zu folgen, einen Glauben haben zu dürfen, ihn zu bekennen und zu leben, eine Religion haben zu dürfen, sie in Ritus und Liturgie zu feiern – auch öffentlich. Das negative Recht, keine Meinung, kein Gewissen, keinen Glauben und keine Religion zu haben, bleibt davon unberührt, aber es kann nicht so weit gehen, daraus verlangen zu können, dass der, der eine Meinung, ein Gewissen, einen Glauben und eine Religion hat, auf den Ausübungsaspekt der entsprechenden Freiheitsrechte verzichtet.

Die Frage der Freiheit des Gewissens, des Glaubens und der Religion ist und bleibt verfassungsrechtlich von größter Bedeutung, da sich andere Freiheitsrechte unmittelbar aus diesen Freiheiten ergeben. Religions- und Glaubensfreiheit sind sehr eng mit der Gewissensfreiheit verbunden. Das Grundgesetz handelt Glauben und Gewissen in einem Kontext ab (Artikel 4). Das Gewissen ist dabei, so Di Fabio im Anschluss an Luther, „höchste Autorität in Glaubensdingen“, zugleich garantiert der Glaube Gewissenhaftigkeit: „Wo der Glaube versandet, scheint aber auch das Gewissen an Wirkkraft zu verlieren“, so der Autor.

Das Gewissen fasst Di Fabio „als eine eigenwillige sittliche Steuerungsinstanz“ auf, die „in jedem einzelnen Menschen zu finden“ sei. Die conscientia sei einerseits eine „kritische Begleiterin des agierenden Ichs“, die diesem „die Fähigkeit zur Selbstreflexion“ verleiht, andererseits speise sich diese Fähigkeit aus einer dem Subjekt äußerlich bleibenden objektiven Ordnung, sprich: „aus Regeln und Normen der sozialen Welt, aus Erziehung und Bildung“. Dieser Einfluss verhindert, dass das Gewissen in Beliebigkeit fällt, er ermöglicht „die strukturelle Kopplung von Gesellschaft und Menschen“, also „von Staat und Bürgern“.

Wenn der Glaube und dessen Organisationsform (Religion) im Gewissen ihren Platz haben, dann stehen mit dem Gewissen auch Glaube und Religion zwischen humanistisch-liberalistischer „Ich-Idee“ und der Rechtsordnung des freiheitlich-demokratischen Staates, deren Aufrechterhaltung gerade zur Sicherung diese Idee dienen soll. In der Regel gelingt das auch, doch in Einzelfragen kommt es zu Konflikten, auch, weil sich heute vermehrt „Muster des Fundamentalen“ auftun (nicht nur von religiöser Seite, wie Di Fabio betont) und sich die Gesellschaft „in parallele, aber sprachlos nebeneinander stehende Sozial- und Erlebnisräume zerklüftet“.

Wie soll der weltanschaulich neutrale Staat mit den Spannungen umgehen? Zunächst: Er muss eine Antwort auf die Gretchenfrage geben, denn Neutralität bedeute nicht „Gleichgültigkeit und Indifferenz“. Schon weil Glaube und Religion als Freiheitsrechte in seiner Verfassung stehen, ist der Staat aufgefordert „Stellungnahmen im Wettstreit der Werte“ vorzunehmen. Er darf sich nicht allein auf zivilgesellschaftliche Aushandlungsprozesse verlassen, er muss das Grundrecht der Religionsfreiheit an den entstehenden Konflikten konkretisieren. Di Fabio schlägt vor, dass er sich dabei Religion und Kirche gegenüber wohlwollend zeigen und auf Integration ausgerichtet sein soll, dabei weniger von formaler Gleichheit ausgehend, sondern von der inhaltlichen Beachtung der Wertordnung, auf der er, der Staat, selber fußt, denn der Staat sei zwar weltanschaulich neutral, aber nicht wertneutral. Toleranz, die in Staat und Gesellschaft für eine wohlwollende Haltung der Religion gegenüber unbedingt erforderlich ist, bedeute gerade nicht, in Relativismus zu fallen. Und was für den Staat und die Gesellschaft als ganze gilt, das gilt auch für den einzelnen Bürger: „Damit nämlich in einer heterogenen und kulturell stärker fragmentierten Gesellschaft Toleranz als Modalität im Umgang freier Subjekte möglich bleibt, ist die Pflege der eigenen Identität der Schlüssel für die Respektierung des Anderen.“ Die staatliche Ordnung kann dabei Kompromissbereitschaft verlangen und darüber hinaus den Integrationswillen fördern, doch Niemand soll im freiheitlichen Rechtsstaat seine Identität aufgeben müssen. Denn das wäre ein Widerspruch zum höchsten Schutzgut des Staates, der Menschenwürde.

Mehr als einmal wird deutlich: Di Fabio ist ein Freund der Religion, zumindest ein Vertreter des besagten verfassungsrechtlichen Wohlwollens. Er betont die „kulturbildende Kraft der Kirchen“ ebenso wie die Bedeutung des Gottesbezugs in der Verfassung: Ist der Mensch die subjektivistische Begrenzung, die sich aus der Freiheit des Einzelnen in Christentum, Humanismus und Liberalismus für den Staat zwingend ergibt, so enthält der Gottesbezug die Aufforderung, diese Freiheit in Verantwortung, Rücksicht und Demut zu nutzen – vor einer letzten unhintergehbaren Instanz, vor Gott. Die Verantwortung vor Gott wende sich dabei „nicht nur gegen die negative Vernunft des Rassen- und Klassenwahns, sondern ist auch eine Absage an den theoretischen Absolutismus der positiven Vernunft, der als politischer und wirtschaftlicher Zweckrationalismus unser Denken beherrscht“.

Die Botschaft, die der Verfassungsexperte weit über den Rechtsrahmen hinaus vermittelt, ist so klar wie sie in den modernen Gesellschaften Europas zu hören nötig ist: Unsere Kultur ist nicht eindimensional. Man kann Glauben und Religion respektieren, ohne selbst zu glauben oder die religiösen Ansichten zu teilen. Gott und Vernunft schließen sich nicht aus – das müsste auch der einsehen, der nicht in guter katholischer Tradition die Vernunft in Gott begründet glaubt. Dabei kommt es sehr wohl darauf an, sich der Quelle und der Grenzen des menschlichen Verstandes bewusst zu sein. Den Müttern und Vätern des Grundgesetzes waren sie bewusst, so banden sie die Verantwortung des Staates und des Menschen an Gott. Doch dieses Bewusstsein geht immer mehr verloren und muss anthropogenen Allmachtsphantasien einer „bornierten Aufklärung“ (Habermas) Platz machen, die Glaube und Religion als „unvernünftig“ ablehnt. Di Fabio betont dagegen: „Vernunft, Aufklärung und Religion bilden einen Dreiklang ohne den keine Harmonie im demokratischen Verfassungsstaat gelingen kann.“ Das Grundgesetz garantiert diese Harmonie, dadurch, dass es eine „freiheitliche, demokratische und säkulare Gesellschaft“ verfasst, doch zugleich „die Quellen und die Grenzen des menschlichen Verstandes“ kennt. Das Grundgesetz antwortet besonders weise auf Gretchens Frage: „Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“ Gut, dass wir es haben. Und gut, dass es Verfassungsrichter gibt wie Udo Di Fabio, die über den Tellerrand des Rechtssystems schauen und dabei auch Glaube und Religion in den Blick bekommen.

Bibliographische Daten:

Udo Di Fabio: Gewissen, Glaube, Religion. Wandelt sich die Religionsfreiheit?
Berlin: Berlin University Press (2008)
142 Seiten, 19,90 EUR
ISBN 978-3940432261

(Josef Bordat)

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