Missbrauch. Teil 2

31. Mai 2013


Oder: Pädophile – Lieblinge der „sexuellen Revolution“

Wir wissen, dass Kinder gegenüber Erwachsenen keine gleichberechtigten Partner sein können, weil sie ihnen körperlich, psychisch, kognitiv und sprachlich unterlegen sind. Hinzu kommt, dass Kinder auf die emotionale und soziale Fürsorge Erwachsener angewiesen und Erwachsenen rechtlich unterstellt sind. Kinder können aus diesen Gründen sexuelle Kontakte mit Erwachsenen nicht selbstbestimmt ablehnen oder ihnen zustimmen, und wenn sie dies zu tun vorgeben, dann als Strategie, um die eigene Machtlosigkeit und das sie verletzende Verhalten des Täters einordnen bzw. um die grauenvolle Situation überhaupt ertragen zu können. Aufgrund dieses strukturellen Machtgefälles ist jeder sexuelle Kontakt zwischen einem Erwachsenen und einem Kind sexueller Missbrauch und gehört bestraft. Das sollte Konsens sein. Ist es heute auch, war es aber nicht immer. Ein Blick zurück – durchaus im Zorn.

Die Grünen lassen ihre Vergangenheit in Sachen Pädophilie aufklären. Das ist gut so. Ich möchte auch den Befunden nicht vorgreifen. Fest steht allerdings bereits jetzt: Nicht nur die Grünen (von denen Teile mal meinten, „einvernehmliche Sexualität“ sei „eine Form der Kommunikation zwischen Menschen jeglichen Alters, Geschlechts, Religion oder Rasse und vor jeder Einschränkung zu schützen“, insbesondere sei Sex mit Kindern „für beide Teile angenehm, produktiv, entwicklungsfördernd, kurz: positiv“; so in einem Diskussionspapier, das unter dem Titel „Sexualität und Herrschaft“ von der Arbeitsgruppe Schwule und Päderasten des Landesverbands Nordrhein-Westfalen 1985 beschlossen wurde), sondern die „sexuelle Revolution“ der 68er-Bewegung an sich, deren Hauptfeind die „spießige“, kirchliche Definition von Sittlichkeit war, ist weit über das Ziel hinausgeschossen. Kernanliegen war und ist es immer noch, die katholische Sexualmoral zu sprengen, die von den wenigsten Menschen wirklich verstanden wird. Schlagwörter wie „frauenfeindlich“, „leibfeindlich“ und „lebensfeindlich“ reichen vielen Menschen aus, um den Eindruck zu haben, Bescheid zu wissen, obgleich diese Attribute etwa das Gegenteil dessen beschreiben, was katholische Sexualmoral im Kern meint. Es geht mir jetzt aber nicht darum, eine Einführung in die Sexualmoral der Kirche zu geben, sondern um die Bewertung von Sex mit Kindern. Diesen hat die Kirche immer abgelehnt, von ihren Anfängen in der Patristik bis heute. Damit war jedoch eine weitere Angriffsfläche gekennzeichnet: Befreiung vom Joch der Kirche hieß eben auch Befreiung vom Joch des Kindersex-Verbots. Kindersex ist seit jeher programmatischer Bestandteil jeder antiklerikalen Befreiungsbewegung gewesen, die etwas auf sich hielt, insoweit, als er es aus Sicht der Kirchengegner sein musste. Das hat etwas mit Feindbild-Logik zu tun. Und die Klammer, die die verschiedenen Strömungen der 68er-Bewegung zusammenhält, ist ein zünftiger Anti-Klerikalismus. Und der zieht sich durch alle publizistischen Ebenen.

So werden in kirchenkritischen Schriften aus dem Bereich der Philosophie oft die im antiken Griechenland herrschende Befürwortung der Knabenliebe gegen ihre neuplatonisch-augustinische Ablehnung ausgespielt. Mit erkennbarem Bedauern zieht etwa der Wissenschaftsphilosoph Bernulf Kanitscheider in einer insgesamt sehr tendenziösen Darstellung zur Sexualmoral der Kirche, bei der Karl-Heinz Deschner der Hauptinformant gewesen zu sein scheint, eine Linie von den Kirchenvätern zum § 176 StGB: „Es ist zu vermuten, dass die heftige Ablehnung der Knabenliebe durch die Kirchenväter das bis zum heutigen Tage anhaltende Unverständnis für diese griechische Spielart der Sexualität bestimmt hat und dadurch auch die rechtsethische Verurteilung bewirkte“ (Die Materie und ihre Schatten, Aschaffenburg 2007, S. 239). Motto: Schon damals gängelte die Kirche die Menschen mit ihrer verstaubten Position, dass man mit 8jährigen Jungs keinen Sex haben soll – und heute haben wir den Salat: Kindersex ist strafbar!

Solche Meinungen, die offenkundig „Verständnis“ für diese „Spielart der Sexualität“ zeigen und fordern, wurden und werden freilich nicht nur von Menschen vertreten, die selbst gerne mit 8jährigen Jungs Sex hätten und sich persönlich gegängelt fühlen, das muss ich wohl nicht extra betonen, aber es bestärkt den immer auch als Kampf gegen die Kirche verstandenen Freiheitsdrang der 68er Sex-Revolutionäre, auch und gerade derer, die mit Kindersex liebäugeln. Diesen Vorwurf müssen sich die abstrakten Vordenker einer „einvernehmlichen Erotik“ zwischen Mann und Junge mindestens gefallen lassen: Dieser Preis ist eindeutig zu hoch im „hehren“ Kampf gegen die „böse Kirche“! Der „gute Zweck“ sollte wohl doch nicht alle Mittel rechtfertigen. Aber selbst das Eingeständnis, dass die Kirche zumindest in ihrer ablehnenden Haltung zum Sex mit Kindern Recht haben könnte, war einigen offenbar zu viel, denn es sprengte das Paradigma des „totalen Bösen“, das die Kirche mit ihrer Lehre als Feindbild der 68er-Bewegung verkörperte. Dieses Feindbild wurde und wird als Gegenideologie gebraucht. Also gilt: Wenn Kirche A sagt, müssen wir nonA sagen. Das mag beim Kinder-Sex pikant sein, ist aber besser, als wenn wir unsere Frontstellung aufweichen. So oder so ähnlich mag der Gedankengang einiger Ideologen gewesen sein. Insoweit ist er aus taktischen Gründen nachvollziehbar.

Apropos Feinbild, apropos Taktik: Noch im Sommer 2000 hat die Humanistische Union, in der der Becker-Lebensgefährte von Hentig Mitglied ist, die „kreuzzugartige Kampagne gegen Pädophilie“ anprangert – ein Schelm, wer bei „Kreuzzug“ gleich an „Kirche“ denkt! Tatsächlich findet in der Kirche seit 2002 eine „Kampagne gegen Pädophilie“ statt, wie das in Teil 1 angesprochene Richtlinienpapier zeigt, während der „Arbeitskreis Sexualstrafrecht“ der Humanistischen Union noch 2003 gemeinsam mit der Arbeitsgemeinschaft Humane Sexualität (AGHS) eine Tagung zum Thema „Sexualität und Recht“ veranstaltete, mit einer Einrichtung also, die unschädliche oder gar positiv wirkende Pädosexualität für möglich hielt (wie etwa auch der Sexualwissenschaftler Helmut Kentler, zu dieser Zeit Berater der AGHS: „Ich habe […] in der überwiegenden Mehrheit die Erfahrung gemacht, dass sich päderastische Verhältnisse sehr positiv auf die Persönlichkeitsentwicklung eines Jungen auswirken können, vor allem dann, wenn der Päderast ein regelrechter Mentor des Jungen ist.“, Täterinnen und Täter beim sexuellen Mißbrauch von Jungen, in: Handbuch sexueller Mißbrauch, hg. von Katharina Rutschky, Reinhardt Wolff, Hamburg 1999, S. 208). Offensichtlich vertritt die AGHS diese Position immer noch, denn auf ihrer Homepage sind momentan noch Texte von 1997 abrufbar, in denen bedauert wird, dass eine Art gesellschaftlicher Druck herrsche, dergestalt, dass man sich gezwungen fühle, „vor einer Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen zunächst einmal und generell zu warnen, auch wenn man sie im Grunde bejaht“.

Sex zwischen Kindern und Erwachsenen „im Grunde bejahen“ – das tun wohl auch Katharina Rutschky und Reinhardt Wolff, die Herausgeber_innen des erwähnten Handbuch sexueller Mißbrauch. Natürlich war Katharina Rutschky (sie verstarb 2010) keine „perverse Verharmloserin des Kindesmissbrauchs“ (sie war ja nicht mal katholisch), sondern als linke Feministin qua definitionem eine „streitbare Intellektuelle“ (Wikipedia), die sich kritisch mit der „bürgerlichen Erziehung“ auseinandergesetzt hat. Dass zur verhassten „bürgerlichen Erziehung“ – zumindest theoretisch – die Ächtung sexuellen Missbrauchs zählt, war der „wichtigen Nachkriegsessayistin“ (Jan Feddersen im Freitag) ein besonderer Dorn im Auge, war sie, Rutschky, doch der Ansicht, dass man den Begriff des sexuellen Missbrauchs sehr eng fassen sollte und nur dann von sexuellem Missbrauch gesprochen werden könne, wenn es zu einer „regelrechten vaginalen Vergewaltigung“ (Kulturreport vom 5. Mai 1993) kommt. Alles andere geht, denn „wenn ein besoffener Vater seine Tochter im Bett der abwesenden Frau für Sekunden mit dieser verwechselt, kann man darauf nicht das Schicksal eines geschändeten Mädchens aufbauen“ (Die Zeit, Nr. 50, 1990). Natürlich nicht! So denn dem Vater rechtzeitig vor der „vaginalen Vergewaltigung“ noch einfällt, dass die Dame unter ihm seine Tochter und nicht seine Frau ist. Kann ja mal vorkommen. Im Suff halt. Wer Frau Rutschky angesichts dessen eine „streitbare Intellektuelle“ nennt, sagt wahrscheinlich zum Vietnam-Krieg „erlebnisorientierter Ökotourismus“. Die TAZ nennt sie „ironisch, intellektuell und lebensfroh“. Kritik an der Suff-Papa-will-doch-nur-spielen-These: Fehlanzeige. Dazu passt, dass Katharina Rutschky ganz allgemein und (soweit mir bekannt) ohne jeden Nachweis die Häufigkeit der sexuellen Vergehen an Kindern bezweifelte: „Es sind die Medien und verschiedene Interessengruppen, die nicht nur mit schlüpfrigen Schlagzeilen Geld verdienen, sondern sich auch einträgliche Arbeitsplätze sichern wollen“. Dagegen spricht schon, dass in den Medien der pekuniäre Effekt der „schlüpfrigen Schlagzeile“ mit der Darstellung spektakulärer Einzelfälle (z. B. – wie komme ich bloß drauf – mit Priester-Tätern) erzielt wird, nicht mit dem Phänomen an sich, das in seiner ganzen Grausamkeit niemand wirklich kennen will.

Die recht eigentümlichen rutschkistischen Thesen mündeten 1999 in eben jenes Handbuch Sexueller Missbrauch ein, so wie die Position des Kollegen Reinhard Wolff („Berühren, Streicheln der Brüste, der Vagina, des Penis, des Hinterteils eines Minderjährigen sowie das Verlangen nach Berührung der eigenen Sexualorgane des Erwachsenen (Masturbation) [hat] nur eine geringe Traumatisierung zur Folge“). Mit dem Titel wird zum einen frech vorgegaukelt, es handle sich um ein anerkanntes Standardwerk, was nicht der Fall ist, zum anderen stellt es eine groteske Herabwürdigung von Missbrauchsopfern dar. Gefeiert wird es unterdessen als „Objektivierungsversuch“. Motto: Wenn man es mal in Ruhe anschaut, ist es alles halb so schlimm.

Kommen wir zum publizistischen Massengeschäft. Der Spiegel – heute die unumstrittene Nr. 1 in der Aufklärungsarbeit zum Kindesmissbrauch (soweit er von Priestern begangen wird) – nahm die Pädophilen seinerzeit (d. h. Anfang der 1980er) geradezu liebevoll in Schutz. In dem Artikel „Mächtiges Tabu“ (Der Spiegel, Nr. 30/1980) wird die „generelle Forderung“ einer „Allgemeinen Homosexuellen Arbeitsgemeinschaft“, nach „Abschaffung der Bestrafung von Sexualität überhaupt“, einschließlich der „Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern“, so unkritisch in den „farbenfrohen Auftritt“ für die „sexuelle Selbstbestimmung von Kindheit an“ eingebettet, dass einem etwaige Zweifel daran, ob Kindern der Sex mit Erwachsenen wirklich so wichtig ist, geradezu peinlich werden. Was waren wir – angefangen von Augustinus – doch jahrhundertelang für katholische Unmenschen! „Kinder sollen lieben dürfen, wen sie wollen“, wird die Pädophilen-Lobby affirmativ zitiert – ein Ansinnen, das der Spiegel als Veredelung des „Jahrs des Kindes“ (1979, J. B.) anerkennt. Wem jetzt nicht die Tränen der Rührung kommen, muss wohl katholisch sein.

Ansonsten hebt der Spiegel-Artikel ans Licht, was heute kaum noch jemand bei selbigem betrachtet haben will: „Inzwischen sind es vor allem die Blätter der Anarcho-Subkultur und der linken Homo-Bewegung, die sich für die ,Pädosʻ und ihre Forderungen stark machen.“ (Beispiel: Pflasterstrand). Und er nennt Zahlen zum Missbrauch („Insgesamt kommen derzeit jährlich etwa 20.000 bis 25.000 Fälle vollendeter oder versuchter sexueller Straftaten gegen Kinder vor den Richter.“), zum Missbrauch, der künftig keiner mehr sein soll. Denn dass Deutschlands Richter demnächst 20.000 bis 25.000 Fälle im Jahr weniger zu bearbeiten haben, dafür wolle die Deutsche Studien- und Arbeitsgemeinschaft Pädophilie (DSAP) schon sorgen, deren Vorstandsmitglied Ben Bendig sagen darf, es sei pervers „den Kindern ihre Sexualität zu stehlen“. Bendig warnte davor, „Kinder bei der Entfaltung und Kultivierung ihrer Sexualität allein zu lassen“. Es geht aber noch unverschämter. Denn weiterhin zitiert der Spiegel einen Hardy S. Scheller, der tatsächlich gemeint haben soll, Pädophile befänden sich auf einer „ethisch-moralischen Sendung“.

Doch nicht nur die linke Szene und die Qualitätspublizistik verhätschelten die Pädophilen, Denkzirkel wie die DSAP durften auch auf wissenschaftliche Unterstützung bauen, nicht nur vom bekennenden Pädophilen Kentler. Im Jahr 1970 „erklärte der angesehene Sexualwissenschaftler Eberhard Schorsch unwidersprochen bei einer Anhörung im Deutschen Bundestag: ,Ein gesundes Kind in einer intakten Umgebung verarbeitet nichtgewalttätige sexuelle Erlebnisse ohne negative Dauerfolgen.ʻ, so Manfred Lütz in der FAZ. Und weiter: „Noch 1989 erschien im renommierten Deutschen Ärzteverlag ein Buch, das offen für die Erlaubnis von pädosexuellen Kontakten warb.“ Lützens Interpretation des Irrsinns: „In diesen Zeiten wurde insbesondere die katholische Sexualmoral als repressives Hemmnis für die ,Emanzipation der kindlichen Sexualitätʻ bekämpft.“

Na, da hätten wir es also wieder: Hinter allem steht das „Feinbild Kirche“, gegen die zu kämpfen sich immer lohnt, wenn es denn die katholische ist. Auch, wenn man dabei über Kinderleichen geht.

(Josef Bordat)