Gewaltfreiheit

15. Juli 2011


„Frieden schaffen, ohne Waffen“ – Pazifismus als radikale Ablehnung von Gewalt als Konfliktlösung ist hierzulande vor allem als Reaktion auf den Rüstungsweltlauf während des „Kalten Krieges“ ein Begriff. Als sich die militärische Lage in Europa entspannte, wurden neue Felder des Widerstands erschlossen: der sozio-ökonomische und ökologische Aspekt, gewissermaßen der „innere Frieden“ und der Frieden des Menschen mit seiner Umwelt, rückten stärker in den Mittelpunkt. Immer mehr weiteten sich pazifistische Widerstandsformen zu einer Protesthaltung gegen politische Fehlentwicklungen aus.

Die großen „Kampfbegriffe“ des Anti-Kriegs-Pazifismus – „soziale Verteidigung“ als Ziel, „ziviler Ungehorsam“ als Methode – eint ein Prinzip, das auch in den zeitgenössischen Modellen des Protests leitend ist: Gewaltfreiheit. Der Sammelband Gewaltfreie Aktion. Erfahrungen und Analysen, erschienen bei Brandes & Apsel (Frankfurt a.M. 2011), gemeinsam herausgeben von Friedensforscher Reiner Steinweg und Ulrike Laubenthal, Trainerin für gewaltfreie Aktion, betrachtet in den Beiträge von 25 Autorinnen und Autoren das „Phänomen Gewaltfreiheit“ systematisch anhand von grundlegenden philosophischen Ideen und soziologischen Theorien sowie in historischer Perspektive mit der Darstellung zahlreicher Fallbeispiele, die Geschichte mach(t)en.

Die einzelnen Texte sind nach Inhalt und Methode sehr unterschiedlich: Theoretische und analytische Arbeiten (u. a. zum Konzept der „Gütekraft“, das Hildegard Goss-Mayr einführte, um den als zu passiv erachteten Begriff der „Gewaltlosigkeit“ bzw. „-freiheit“ zu ersetzen) wechseln sich mit Erfahrungsberichten und praktischen Tipps für die Organisation und Durchführung konkreter Aktionen ab. Dazu zählen Anti-Castor-Proteste genauso wie Demonstrationen gegen den G8-Gipfel oder „Stuttgart 21“. Aber auch das vielleicht bedeutendste Beispiel erfolgreichen friedlichen Widerstands: die Leipziger Montagsdemonstrationen des Wendeherbsts 1989, über die der damalige Pfarrer der Nikolaikirche, Christian Führer, in einem Interview Auskunft gibt.

Für religiöse und nicht-religiöse Menschen

Politische Vorbilder der Gewaltfreiheit sind Martin Luther King und Mahatma Gandhi, deren Ideengeber Jesus Christus war, mit der Forderung nach Gewaltverzicht – auch dem Feind gegenüber.

Tatsächlich kommen die meisten, die sich in Diskurs und Aktion der Gewaltlosigkeit verschrieben haben, de facto aus einem christlichen Umfeld und tragen die Motive der Bergpredigt in ihre Arbeit für Frieden und Gerechtigkeit hinein, doch die Anwendung des „Gütekraft“-Prinzips ist nicht auf Christen beschränkt, vielmehr ist es als Empathie- und Entfeindungsansatz gerade die über Bekenntnisgrenzen hinweg vermittelbare (und damit auch säkularisierbare) Nächsten- und Feindesliebe.

Alle gewaltfreien Aktivisten eint dabei „ein tiefer Glaube an die Zukunft“ sowie „die Gewissheit, dass die Zuflucht zur Gewalt letztlich immer zu gesellschaftlichen Rückschritten führt“. Der „tiefe Glaube“ hat seine Quelle „in ansonsten höchst unterschiedlichen Religionen“, wie die Herausgeber in ihrer Einleitung zu den „Kernpunkten“ des Topos klarstellen. Gewaltfreiheit ist religiös motiviert, verpflichtet jedoch nicht „auf eine religiöse Praxis“. Sie ist als Prinzip des vertrauensvollen Miteinanders abhängig von einem positiven Menschenbild, wie es den meisten Religionen eignet, jedoch „nachvollziehbar für religiöse wie für nichtreligiöse Menschen“ (Martin Arnold).

Wenn aus Gewaltfreiheit Gewalt entsteht

Auch die „friedlichen Revolutionen“ in Nordafrika, deren Bilder im Frühjahr um die Welt gingen, lassen sich im Kontext des Sammelbandes besprechen. In seiner Analyse der Umbrüche in den arabischen Ländern vergisst Reiner Steinweg allerdings, die Gefahr einer weiteren Islamisierung der Politik und damit einer Verschlechterung der Menschenrechtslage (u. a. einer Verschärfung der Christenverfolgung) zu thematisieren. Es droht (etwa in Ägypten) durchaus das, was Egbert Jahn mit Blick auf die „Iranische Revolution“ von 1979 feststellt, die ebenfalls von den Massen gewaltlos initiiert wurde: eine Autokratie (im Iran: das Schah-Regime, in Ägypten: das Mubarak-Regime) wird durch eine islamistische Diktatur ersetzt (im Iran: die Ajatollahs, in Ägypten: die Muslimbrüder).

Gewaltfreiheit kann eben auch strategisch eingesetzt werden, um Menschen für den Protest zu gewinnen und „die Öffentlichkeit“ (also im Wesentlichen die Medien) auf die eigene Seite zu schlagen, wissend, dass sich Gewaltfreiheit vermarkten lässt. Gerade deswegen ist das Konzept der „Gütekraft“ wertvoll: Es erinnert an das gewaltfreie Handeln als Selbstzweck, das zur Grundhaltung wird und sich von daher nicht instrumentalisieren lässt.

Hilfreich für Theorie und Praxis

Der Sammelband wird denen, die wissenschaftlich zu Fragen der Gewaltfreiheit bzw. „Gütekraft“, zu zivilem Ungehorsam oder zu aktuellen politischen Protesten arbeiten, einen Überblick über Geschichte und Gegenwart pazifistischer Widerstandsformen verschaffen und neue konzeptionelle Impulse geben. „Praktikern“ wird es helfen, ihr Selbstverständnis vor dem Hintergrund der theoretischen Konzepte zu reflektieren – und die nächste Aktion zu planen.

Der vorliegende Beitrag stellt eine geringfügig geänderte Fassung des Artikels Gütekraft voraus!, erschienen in: Titel. Kulturmagazin).

(Josef Bordat)