Respekt

13. Januar 2015


1. Nach dem Anschlag von Paris besteht in den säkularistischen Gesellschaften Europas die Gefahr eines allgemeinen Verlustes an Respekt dem Glauben gegenüber, jedem Glauben, jedem religiösen Glauben. Die völlig entgrenzte Huldigung der Respektlosigkeit in Gestalt einer von jeder Verantwortung entbundenen Freiheit der Meinungsäußerung in Kunst und Publizistik legt den Schluss nahe, dass Respekt etwas ist oder zumindest werden soll, auf das „wir“ im Zweifel verzichten können. Zumal, wenn es um „Religion“ geht. Es besteht jedoch die Gefahr, dass, wenn der Respekt vor „Religion“ verloren geht, auch der Respekt vor Religionen und vor religiösen Menschen verloren geht. Und damit vor dem Menschen.

2. Die Vorkämpfer des Vulgäratheismus‘, die moralische Vollkommenheit nicht mehr in der einrassigen oder der klassenlosen, sondern in der religionsreinen Gesellschaft erwarten, wo doch „Religion“ – die „Ursache allen Übels“, wie ich kürzlich belehrt wurde – alles Böse in die ehedem friedliche, freie und hochentwickelte Welt brachte und seither überall dort, wo sich ein zartes Pflänzchen an Frieden, Freiheit und Fortschritt zeigt, dreinschlägt und alles wieder zerstört (also: nicht ISIS, Al Kaida oder Boko Haram, sondern „Religion“), sind – wie sich das für Vorkämpfer ja auch gehört – schon lange vor dem Anschlag von Paris auf diesen Trichter gekommen. Sie überschlagen sich seit Jahren mit Pamphleten, in denen sie der Frage nachgehen, wie sehr nun genau „Religion“ keinen Respekt verdient.

Nun verschärft sich – ja, das ist doch noch möglich – auch hier der Ton. Immer offener werden die Einlassungen, bei denen man sich fragt, ob sie ernster genommen werden als sie gemeint sind – oder umgekehrt. Jedenfalls schaffen es „man sollte jeden Glauben verachten“ und „bis auch der letzte Koran, die letzte Bibel und die letzte Thorarolle wegen Menschenfeindlichkeit eingestampft worden sind“ von den einschlägigen Foren irgendwo in den Weiten des Internet, von denen man solche Textbausteine kennt, in die Mitteldeutsche Zeitung und bleiben dort unkommentiert stehen. Es wird auch nicht nachgehakt, was in einem Interview durchaus möglich wäre. Nein, „man sollte jeden Glauben verachten“ und „bis auch der letzte Koran, die letzte Bibel und die letzte Thorarolle wegen Menschenfeindlichkeit eingestampft worden sind“ könnten nicht nur in der Mitteldeutschen Zeitung, sondern auch in der Mitte der deutschen Gesellschaft angekommen sein. Das ging dann doch schneller als ich dachte.

Dabei wird der islamistische Terror instrumentalisiert, um eine extreme weltanschauliche Position populär zu machen (nämlich den theoretischen Antitheismus und die praktische Religionsfeindlichkeit, jeweils auf der Grundlage einer sehr einseitigen Betrachtung dessen, was Glaube darstellt, Theologie leistet, „Religion“ bedeutet, Religionen beinhalten sowie religiöse Menschen einzeln und in Gemeinschaft taten und tun). Das scheint ebenso übersehen zu werden wie der Umstand, dass pure Verachtung für das Unverstandene und Fremde (hier: „Religion“) kein besonders überzeugender Ausweis moralischer Überlegenheit ist, die man aber ebenso regelmäßig wie selbstverständlich für sich in Anspruch nimmt.

3. Ein derart aus und mit Verachtung geführter Diskurs lässt sich nicht in eine „intellektuelle“ Sphäre verfrachten und dort kontrolliert einfrieden. Man kann nicht ständig betonen, wie „dumm“, „rückständig“ und „menschenverachtend“ religiöse Vorstellungen seien, dass man „jeden Glauben verachten sollte“ und dass man Koran, Bibel und Thorarolle – Schriften, die vielen Menschen heilig sind –, besser „einstampfte“, aus Menschenfreundlichkeit, ohne damit über kurz oder lang nicht nur „Religion“, sondern die Religionen (hier: Judentum, Christentum und Islam) und am Ende auch religiöse Menschen selbst zu treffen. Es drängt sich der Verdacht auf, dass man genau das will.

Geht der Respekt vor „Religion“ verloren, geht mit der Zeit auch der Respekt vor den Religionen und den religiösen Menschen, die diese praktizieren, verloren, denn an wem sollte sich die Respektlosigkeit letztlich erkennbar manifestieren? Und das muss sie ja, wenn sie sich – zum Wohle der Menschheit – ausbreiten soll, möglichst rasch, wenn es irgendwie geht. Wer wirklich meint, „Religion“ stehe Frieden, Freiheit und Fortschritt im Weg, muss sich ja vorwerfen lassen, warum er dann ihre Ausprägung in Gestalt der Religionen und der Menschen, die ihnen angehören, tatenlos zulässt. Dass eine „Abschaffung“ „der“ „Religion“ zu Lasten der Religionen und damit der religiösen Menschen geht, dürfte mithin klar sein.

Wenn aber der Respekt vor religiösen Menschen verloren geht, droht auch der Respekt vor dem Menschen verloren zu gehen, der Respekt vor dem menschlichen Leben. Denn wohin gelangt jemand, der das christliche Menschenbild mit dem Hinweis auf den darin enthaltenen „unangebrachten Respekt vor der Lehre von der Heiligkeit des menschlichen Lebens“ (Peter Singer) verwirft? Zur ethischen Rechtfertigung von Abtreibungen bis zur Geburt und – bei Krankheit und Behinderung – auch weit darüber hinaus (Peter Singer). Der heroische Kampf gegen die Menschenfeindlichkeit der „Religion“, der Religionen, der Religiösen hat Opfer. Die Geschichte allzu fortschrittlicher Gesellschaftssysteme mit religionskritischem Unter- oder Überbau zeigt, dass diese Tatsache nicht zu unterschätzen ist. Bei aller Menschenfreundlichkeit.

4. Die Religionen müssen sich als res publica genauso der Kritik stellen wie andere öffentliche Angelegenheiten, die direkt (Politik, also: Parteien), indirekt (Wirtschaft, also: Unternehmen) oder programmatisch (Medien, also: Presseorgane) auf die Art, wie wir zusammenleben, einen Einfluss nehmen. Das muss aber unter der Annahme geschehen, dass die Akteure den Willen haben, die Gemeinschaft positiv zu beeinflussen, auch, wenn dieses zu unterstellende Wohlwollen in dem einen oder anderen Fall nicht gerechtfertigt war, ist und sein wird. Das muss im Hinblick auf die Tatsache geschehen, dass nach der Kritik eine weitere Zusammenarbeit möglich bleiben muss, wenn man die ohnehin fragmentierte Gesellschaft nicht noch weiter spalten will. Das muss also so geschehen, wie es der Begriff Kritik schon verspricht: differenziert, sachlich, konstruktiv. Eine „Kritik“, die nichts als verbrannte Erde hinterlässt, mag sich stolz auf die schmale Schulter klopfen und als heldenhafte Verteidigung der gesetzlich zulässigen Frechheit feiern lassen – der Freiheit (zumal der des Anderen), dem Frieden und dem Fortschritt ist damit nicht gedient.

5. Respekt kann man nicht erzwingen. Weder vor „Religion“ noch vor Veganismus, nicht vor Borussia Mönchengladbach und nicht vor Picasso. Aber: Warum nicht mal mehr leisten als zwingend vorgeschrieben werden kann? Die Feindesliebe ist zwar nur dem Christen geboten und daher nicht für alle verbindlich, doch ein Minimum an Anstrengung, den Anderen verstehen zu wollen, schadet Niemandem. Und wer nun gar nichts anfangen kann mit „Religion“, wer ihr leidenschaftslos gegenübersteht, also die Verletzung religiöser Gefühle weder bei sich kennt noch in diesem Fall das Gespür für Mit-Leid entwickelt hat, der möge sich einfach vorstellen, wie es wäre, träte man auf seinen Gefühlen herum, beleidigte man seine Familie und das, was ihm lieb ist. Dann verletzt eine Mohammed-Karikatur zwar immer noch nicht, aber es lässt sich vielleicht nachempfinden, wie sich jemand fühlen muss, der von einer Mohammed-Karikatur in seinen Gefühlen verletzt wird.

6. Ergebnis eines solchen Selbstversuchs muss nicht Respekt vor „Religion“ (oder vor „dem Islam“ oder gar „der Kirche“) sein – Gott bewahre! Es kann aber am Ende der empathischen Sonderfahrt etwas anderes stehen: Toleranz. Das wäre schon etwas. Es wäre etwas, wenn man den Anderen als Menschen ernst nähme, als Menschen, der Haltungen hat, die ich zwar nicht unmittelbar teile, bezüglich derer ich aber doch nachvollziehen kann, dass sie ihm, dem Anderen, wichtig sind, so wichtig, dass sie den Kern seiner Person ausmachen, seine Würde.

7. Die Achtung der Menschenwürde ist die inhaltliche Grenze dieser Toleranz. Man mag methodische Grenzen hinzusetzen, etwa den Test einer Haltung auf mitbedachte Mutualität (Goldene Regel) und potentielle Verallgemeinerbarkeit (Kategorischer Imperativ) oder das Metaprinzip einer jeden vernünftigen Ethik, dass das im Gewissen als das Gute erkannte immer dem Bösen vorzuziehen ist. Heraus kommt dabei stets: Gewalt ist in jeder Form zu ächten, gewaltsames Handeln in jeder Form zu vermeiden, wenn es möglich ist. Und wer dann noch Kraft hat, sollte – wo es möglich ist – Frieden stiften und für Freiheit einstehen, vor allem für die des Anderen. Das mit dem Fortschritt ergibt sich dann schon.

(Josef Bordat)

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