Neuer Hirte. Alter Hass

19. September 2015


Der katholische Samstag in Berlin

Heute war – wie bereits angekündigt – einiges los in Berlin. Zuerst ging es für mich zur Amtseinführung unseres neuen Erzbischofs Heiner Koch. Es hieß, man möge doch bitte rechtzeitig kommen, um pünktlich seinen Platz einzunehmen, was ich tat. Also: Rechtzeitig kommen. Das mit dem Platz einnehmen gestaltete sich dann doch etwas schwieriger, weil die Unterkirche, in der man sich zum katholischen Public Viewing traf, schon ziemlich voll war – rund ein Stunde vor Beginn der Feier.

Nun gut, ein Plätzchen am Rande konnte ich noch ergattern und hatte noch etwas Zeit, über die soziokulturellen Bestimmungsgrößen „oben“ und „unten“ nachzudenken, ehe auf den Bildschirmen eine gewisse Hektik zu sehen war. Aha, der „Regierende“ kommt! Das heißt, er müsste irgendwo dort sein, im Pulk. Ist ja ohnehin – zumal im Vergleich zum schillernden Vorgänger – ein eher Unauffälliger. Menschen, die so aussehen wie er, sagen sonst Dinge wie: „Für Ihren Kreditantrag füllen Sie diese Formulare aus. Die schicken wir dann zur Zentrale nach Frankfurt“. Müller heißt er übrigens.

Dann geht es los. Sehr feierlich, so eine Amtseinführung. Viele Formalia. Man kennt das von der Eröffnungsfeier Olympischer Spiele. Da ist man spätestens bei „Former Republic of Yugoslavia“ eingeschlafen. Aber hier hält die schöne Musik wach. Und natürlich der Anlass: Berlin bekommt einen neuen Hirten. Immer wieder drückt sich in den Grußworten die Hoffnung aus, dass es diesmal doch – bitte schön – eine etwas längere Amtszeit werden möge. Woelki in Großaufnahme. Die Unterkirche hat Vorteile.

Das Evangelium ist dieses anspruchsvolle, das von dem Samen, der auf vier verschiedene Böden fällt: Weg, Fels, Erde mit Dornen überwuchert, gute Erde. Nur die lässt das Gute wachsen. Ich fühle mich auf dornigem Fels: Ist mein Glaube groß genug, auch in ernsthaften Anfechtungen stand zu halten? Gibt es Dinge, die meinen Glauben zudecken und zu ersticken drohen? „Im Glauben gibt es kein Unentschieden“, predigt Fußballfan Heiner Koch. Wie wahr. Und: Wir sind alle Glaubende; auch die Nichtglaubenden müssen – soweit sie Letzte Fragen stellen – glauben. Zwei Dinge seien für den Glauben wichtig: Freude und Liebe.

Es ist keine mitreißende Predigt, die Aufbruchstimmung vermittelt, sondern eine sehr realistische, die von der Liebe Gottes und der Freude des Glaubens ausgeht, dann sogleich den Brückenschlag zur bunten Gesellschaft in Stadt und Land unternimmt. Koch weiß, was in Berlin auf ihn zukommt – auch an Gegenwind. Der neue Erzbischof will aber alle hineinnehmen in seine Mission: Gaudete semper Dominus prope – „Freut euch im Herrn zu jeder Zeit“!

Die Politik indes zeigt sich im Anschluss an die Liturgie sehr wohlwollend, hebt den großen und wertvollen Beitrag der Kirche in der Bewältigung der Flüchtlingssituation hervor. Die Katholische Kirche ist ein wichtiger Partner für Berlin und Brandenburg. Die evangelische aber auch. Was sozial und karitativ zu tun ist, lässt sich ohnehin am besten ökumenisch bewältigen. Koch ist offen, will ein hörender Hirte sein. Das kommt an.

Ich wechsle den Schauplatz, gehe zum Marsch für das Leben, der gerade – zu meinem Glück – irgendwo unter den Linden festsitzt. Blockade von Gegendemonstranten. Für Strafrechtler Nötigung, für mich die Chance, Anschluss zu finden. Prima! Ich treffe Bekannte. Wenig später geht es weiter, an den grölenden Horden vorbei. In den Gesichtern unserer Gegner sehe ich Hass, nichts als Hass. Ich bemühe mich, sehe genau hin. Nein, da ist nur Hass. In diesem Moment. Ein Hörender sein. Gut, ich höre.

Das meiste ist nicht satisfaktionsfähig, zu deutsch: Unsinn. Oder reine Provokation. Die soll verletzten und verletzt auch. Ich weiß, dass viele Menschen mit den Zielen der Lebensschutzethik übereinstimmen, aber nicht zum Marsch für das Leben gehen, weil sie diese Verletzungen nicht ertragen. Hass lohnt sich. Dann: „Nie wieder Deutschland“. Worum geht es uns? Menschenwürde und Lebensrecht? Deutschland? Das Problem, das dabei unbeabsichtigt um die Ecke winkt, ist tatsächlich ein deutsches: Hier soll demnächst das Verbot der Aktiven Sterbehilfe gelockert werden, ausgerechnet hier (nachdem ein entsprechender Versuch im sonst sehr liberalen Großbritannien kürzlich gescheitert ist). In der Tat: Nie wieder, Deutschland!

Was gibt es noch zu hören? Trillerpfeifen, Trommeln. Das ist die musikalische Untermalung. Marathonstimmung. Aber auch wildes Geschrei, auf das der Zug eigenwillig antwortet: Die Marschteilnehmer singen „Lobe den Herrn meine Seele“. Man fragt sich, was passieren würde, wäre die Polizei nicht da. Wie weit würden die Menschen am Rande gehen? Was müssen Sie von uns denken, dass sie uns so sehr hassen? Ich glaube, dass der Hass derer, die am Rande stehen, nur halb so groß ist wie das Missverständnis bezüglich der Frage, wer wir sind und wofür wir stehen. Jedenfalls nicht für „Deutschland“.

Noch einmal: Hingehört! Es lohnt sich aber nur bedingt. Eine junge Dame mit einem Schild, auf dem steht: „Your moral out of my vagina“, drückt eindeutig aus, dass die Zahl derer, die das Anliegen der Lebensschutzethik nicht verstanden haben, wieder um eins gestiegen ist. Der Dauerbrenner „Haut ab!“ ist ja schon angesichts von Blockaden einigermaßen widersinnig, richtig pikant wird es aber dann, wenn er sich auch an syrische Christen richtet, soweit sie als Lebensschützer mitziehen. Aber jungen Männern, die an junge Frauen mit erhobener Faust brüllend die Botschaft „Nieder mit dem Patriachat“ richten, muss man mit Logik wohl auch nicht mehr kommen.

Dennoch: Alle Selbstbestimmungsslogans, die dahin gehen, dass es die Frau ist, die in Freiheit wählt, ob und ggfs. wie viele Kinder sie bekommen möchte, sind im Prinzip richtig. „My body, my choice“. Völlig OK. So lange es eben nur um my body geht und nicht um den body eines Anderen. Wer in der achten Klasse einigermaßen aufgepasst hat, weiß, dass das ungeborene menschliche Leben eine eigene biologische Existenz darstellt, mit eigenem genetischen Code. Der Spruch läuft also ins Leere. Er umgeht die unumstößlichen Fakten. Das ist für Hass nicht untypisch.

Ähnliches gilt für „Ob Kinder oder keine, bestimmen wir alleine“. Ja, wer auch sonst?! Nur geht es eben um den Zeitpunkt der Entscheidung. Wenn das Kind erst einmal da ist – als eigenständige Existenz (s. oben) –, dann fällt eine Entscheidung über das Kind nicht mehr allein in die Befugnis der Mutter. Dann mischt sich der Staat zu Recht ein. Er tut es in Deutschland sehr moderat. Klar ist aber, dass das Selbstbestimmungsrecht des Menschen einer Normierung bedarf, wenn es Dritte betrifft. Deswegen ist dann auch die Forderung nach Abschaffung des § 218 StGB im Rahmen des Pro Choice eine konsequente, wenn auch eine konsequent falsche.

Es beginnt heftig zu regnen. Der Gottesdienst findet dennoch statt und die Zahl der Teilnehmer überrascht: Über 7000 seien es gewesen – trotz mäßigen Wetters und trotz der nicht ganz unbedeutenden Parallelveranstaltung, die manche Katholikin, manchen Katholiken abgehalten haben dürfte, zum Marsch für das Leben zu kommen. Neben der Furcht, Opfer von Begleiterscheinungen zu werden.

Mein letzter Blick fällt auf den Berliner Dom, an dessen Fassade zwei Bibelverse prangen, die Trost und Kraft geben: „Siehe ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“ (Mt 28, 20) und „Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat“ (1 Joh 5, 4). Mein letzter Gedanke gilt dem Grußwort des Berliner Bischofs Dröge, des neuen Kollegen Kochs von der anderen christlichen Fraktion: Ja, hinhören, nicht so sehr auf die lauten, eher auf die leisen Stimmen, nicht auf das Geschrei, sondern auf die lautlosen Rufe derer, die keine Stimme haben.

Auf dem Heimweg gehen mir einige Bilder noch einmal durch den Kopf. Die netten Begegnungen, die aufbauenden Ansprachen, aber auch die hasserfüllten Menschen am Straßenrand. Ich bin schon fast wieder zu Hause, als mir einfällt, dass mein sehnlichster Wunsch für den nächsten Lebensmarsch nicht trefflicher formuliert werden kann als von den Gegendemonstranten: „Fundamentalismus raus aus den Köpfen“. Wäre das schön! Vielleicht kann man – mit klarem Kopf – auch irgendwann einmal in der Zukunft das Koch-Rezept ausprobieren: Einander zuhören.

(Josef Bordat)

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