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27. Juni 2012


Ein diskursanalytischer Nachtrag zum Beschneidungsurteil

Die Diskussion des Beschneidungsurteils auf tagesschau.de enthält vieles: im Wesentlichen Zustimmung zum Urteil, hygienisch-medizinische Expertisen zum Thema Beschneidung (wobei oft nicht zwischen der Beschneidung von Jungen und Mädchen unterschieden wird), ganz viel Unverständnis angesichts des fremdartigen Phänomens „Religion“[1], die verstärkte Infragestellung der Religionsfreiheit als Menschenrecht[2], ermüdende Wiederholungen immer gleicher Textbausteine in immer gleicher Diktion, die Forderung nach Ausweitung der Eingriffe zum Schutz des Kindeswohls (Verbot von christlichen Taufen und katholischem Religionsunterricht) sowie die Tendenz zur Bereitschaft, Erziehungsprinzipien staatlich und nicht von den Eltern bestimmen zu lassen[3].

Daran mangelt es nicht. Was man vergeblich bei den weit über hundert Kommentaren sucht, sind Rekonstruktionen des Urteils aus muslimischer und jüdischer Sicht. Die Genesis wird nicht zitiert, auch, wenn einigen „die Vorschrift mit dem achten Tag“ durchaus bekannt zu sein scheint. Aber die Tatsache, dass aus dem Urteil nun für das Judentum in Deutschland Probleme erwachsen, wird ignoriert. Dabei hatte ich gestern noch geschrieben, „daß der rechte Gesichtspunkt, um billig zu urteilen, der ist, sich in die Stelle des anderen zu versetzen“ (Gottfried Wilhelm Leibniz: Nouveaux essais sur l’entendement humain. Buch I, Kap. 2, § 4). Sich „in die Stelle“ eines Juden zu versetzen und dann zu merken, dass mit dem Urteil ein wesentliches Element der eigenen Identität betroffen ist, wäre hilfreich, um sich die allervoreiligsten Schlüsse zu verkneifen. Andererseits: Klarheit zu erhalten über die Stimmung im Volk ist auch nicht schlecht. Soll hinterher keiner sagen, man habe ja nichts ahnen können.

Anmerkungen:

[1] Das Urteil wird denn auch vor allem als Befreiungsschlag gegen „die Religion“ gelesen. Kommentar: „Das Urteil gegen die Beschneidung ist ein bedeutender Schritt in eine Welt der Aufgeklärtheit. Wenn man ehrlich ist, so hat die Religion vor allem immer nur eins getan: Fortschritt im Geiste verhindert und Intoleranz geschürt.“ Insoweit freut es viele, dass es endlich „der Religion“ an den Kragen geht, wobei oft genug betont wird, dass die „Religionsfreiheit“ davon nicht betroffen sei. Zwischen konstitutiven und nicht-konstitutiven Elementen einer Religion wird nicht weiter unterschieden. Die Bedeutung des menschlichen Treuebeweises wird nicht erkannt, ebenso wenig wie der Charakter der Beschneidung als Mitwirkung des Menschen am Bundesschluss Gottes. Statt dessen wird angenommen, es gehe bei der Beschneidung quasi um die nachträgliche Korrektur eines Schöpfungsmangels („Hätte Gott Männer ohne Vorhaut gewollt, hätte Gott halt Männer ohne Vorhaut erschaffen müssen!“).

[2] „Ich halte das Urteil für richtig. Die körperliche Unversehrtheit steht als Menschenrecht in jedem Fall über der Religionsfreiheit.“ – Ich kann mich des Eindrucks nicht ganz erwehren, dass die Religionsfreiheit als eigenständiges Menschenrecht mit eigenem Schutzbereich zusehends an Bedeutung verliert, in dem Maße, wie man Religion als bloße Meinung missversteht, die man halt auch noch hat (neben der Meinung, dass Spanien gut Fußball spielt und rote Autos schon sind), nicht aber als identitätsstiftende Lebensorientierung.

[3] Wir müssen grundsätzlich aufpassen, dass wir mit dem „Soll sie/er später selbst entscheiden!“ nicht zur Lebensuntüchtigkeit erziehen. Ich bin ja auch dafür, dass Mütter nicht mehr mit ihren Kindern sprechen dürfen sollten, denn das legt das Kind unzulässig auf eine Sprache fest! Wenn das nun ausgerechnet ungarisch ist (und nicht englisch oder wenigstens Mandarin), hat das Kind einen bleibenden Bildungsnachteil. Wer die Analogie von Religion und Sprache jetzt für überzogen hält, sollte Richard Schröder hören: „Die Idee, Kinder im Status eines religiös unbeschriebenen Blattes zu halten, eröffnet ihnen nicht die große Freiheit der Wahl, sondern verhindert sie. Es ist wie bei den Sprachen: Nur wer früh genug eine Muttersprache gelernt hat, kann Fremdsprachen lernen und sogar die Muttersprache wechseln.“ (vgl. Abschaffung der Religion?)

(Josef Bordat)

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