Intoleranz und Menschenverachtung. Marsch für das Leben 2014

20. September 2014


Der diesjährige Marsch für das Leben in Berlin, mittlerweile der zehnte, war ähnlich wie der im Jahr zuvor – das Format (Kundgebung, Gedenkmarsch, Gottesdienst) hat sich bewährt. Das Wetter hielt nicht ganz mit dem strahlenden Sonnenschein des letztjährigen Spätsommertags mit, aber es blieb im Wesentlichen trocken. Auch die Zahl der Teilnehmer entsprach in etwa der des Vorjahrs – rund 5000 Personen machten sich auf den Weg durch die Mitte Berlins, um für die Würde des Menschen und das Recht auf Leben ein Zeichen zu setzen.

Marsch für das Leben 2014. Kundgebung. Foto: JoBo, 9-2014.

Marsch für das Leben 2014. Kundgebung. Foto: JoBo, 9-2014.

Und ähnlich wie im Vorjahr gab es freilich auch eine Begleitung des Zugs durch Damen und Herren, die nicht ähnliche Parolen wie im Jahr zuvor brüllten, sondern dieselben. Meine Tipps für mehr Niveau wurden offenbar nicht beachtet. Zahlenmäßig schien mir die Gegendemonstration nicht gewachsen, zugelegt haben die Gegnerinnen und Gegner des Lebensschutzes allerdings in Sachen Aggressivität und Störaktionen, deren Rechtskonformität andere Stellen zu bewerten haben.

Marsch für das Leben 2014. Unterwegs. Foto: JoBo, 9-2014.

Marsch für das Leben 2014. Unterwegs. Foto: JoBo, 9-2014.

Was mir allerdings durch den Kopf ging, ist folgendes: Auf welcher Seite stehen Intoleranz und Menschenverachtung? Auf der, wo man sie gemeinhin verortet, weil man dort friedlich für die Würde des Menschen und das Recht auf Leben als elementares Menschenrecht eintritt, oder auf der, wo so viel Aggression und Hass angestaut ist, dass es ein massives Polizeiaufgebot braucht, um die Menschen auf jener Seite vor den Menschen auf dieser Seite zu schützen? Sollten wir uns wirklich daran gewöhnen, als diejenigen zu gelten, die intolerant und menschenverachtend sind?

An zwei andere Dinge haben wir uns offenbar gewöhnt: Zum einen, dass es in Deutschland nur unter massivem Polizeischutz möglich ist, die Einhaltung zentraler Artikel des Grundgesetzes (z. B. Artikel 1 und 2) öffentlich einzufordern. Und zum anderen, dass man andere Grundrechte, wie das der Meinungs- und Versammlungsfreiheit nur unter erheblicher Störung ausüben kann. Gut, die anderen haben ebenfalls ein Grundrecht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit – und eine Meinung darf in Deutschland auch aus dem perpetuierten Grölen hohler Phrasen bestehen. Insoweit mussten wir uns wohl über die Jahre daran gewöhnen.

Woran ich mich allerdings nicht gewöhnen will, ist die Tatsache, dass die Gewissens-, Glaubens- und Religionsfreiheit nicht öffentlich ausgeübt werden kann, etwa in Gestalt eines ungestörten Gottesdienstes. Und: Nein, es ist nicht Bestandteil der negativen Religionsfreiheit, die positive Religionsfreiheit faktisch unmöglich zu machen, sondern allein, an der Ausübung dieser nicht teilnehmen zu müssen. Gebete, geistliche Lieder und eine Predigt im Rahmen eines Gottesdienstes niederzubrüllen oder das zumindest zu versuchen, überschreitet den Rahmen der Entfaltungsmöglichkeiten, welche die Religionsfreiheit denen einräumt, die mit Religion nichts am Hut haben.

Marsch für das Leben 2014. Gottesdienst. Foto: JoBo, 9-2014.

Marsch für das Leben 2014. Gottesdienst. Foto: JoBo, 9-2014.

Wenn Kundgebung und Gedenkmarsch gestört werden, kann man noch von einem Meinungsstreit sprechen, insoweit politische Forderungen konkurrieren, auch, wenn sie in Art und Güte sehr ungleich in die Öffentlichkeit getragen werden. Wenn aber ein Gottesdienst gestört wird, so gibt es kein Recht auf der Seite der Störer. Hier gibt es nur das Recht auf Teilnahme und das Recht auf Nichtteilnahme. Es gibt kein Recht auf Störung. Dass sich große Teile der Gegendemonstration dieses Recht dennoch genommen haben, war wirklich etwas Neues am heutigen Nachmittag: eine neue Dimension der Intoleranz und der Menschenverachtung.

(Josef Bordat)

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