Ein Abend zu Laudato Si

19. Juni 2015


„Lesen!“ Freiburgs Weihbischof Uhl erteilt mir auf Nachfrage den ultimativen Rat im Zusammenhang mit Laudato Si. „Selber lesen!“ Wie es dazu kam – später.

Ansonsten war sie hochinformativ, die Vorstellung der neuen Enzyklika von Papst Franziskus, seiner ersten eigenen, der ersten übrigens, die sich – obgleich sie sich an alle Menschen wendet – keinen lateinischen Titel trägt. Die Vorstellung fand gestern Abend auf Initiative der Katholischen Akademie in Berlin und des Kathedralforums St. Hedwig im Bernhard-Lichtenberg-Haus statt. Teilgenommen haben zwei echte Experten: Neben Weihbischof Bernd Uhl, dem Vorsitzenden der Arbeitsgruppe „Ökologische Fragen“ in der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz noch Ottmar Edenhofer, Chef-Ökonom des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung und Direktor des Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change, der als ehemaliger Jesuit nicht nur fachliche, sondern auch methodische Hinweise geben konnte, Einblicke in die Art und Weise, wie Jesuiten denken. Die Moderation der Veranstaltung übernahm Christopher Schrader aus der Wissenschaftsredaktion der Süddeutschen Zeitung.

Gerade die Stellungnahme Edenhofers ergründete aus Sicht der mit Klimafragen befassten Wissenschaft die vielschichtige Bedeutung von Laudato Si sehr nachvollziehbar. Es sei eben keine „Öko-Enzyklika“, so Edenhofer, da sie die globalen ethischen Herausforderungen Klimawandel und Armut gleichermaßen thematisiere, und zwar gleichrangig. Das sei neu, denn bisher habe die Kirche das Armutsproblem vorrangig behandelt. Für ihn, Edenhofer, stelle die Vermeidung des Klimawandels (genauer: der Erhöhung der Erdmitteltemperatur um mehr als 2 Grad) und die Bekämpfung der Armut ohnehin keinen Zielkonflikt dar, sondern eher so etwas wie zwei Seiten einer globalen Entwicklungsmedaille. Papst Franziskus, der stets die „Option für die Armen“ betont, Inkonsistenz vorzuwerfen, verfange daher nicht.

Revolutionär sei die Fortschreibung des Eigentumskonzepts der Katholischen Soziallehre in der Figur des „Gemeineigentums“, dem das Privateigentum untergeordnet ist. Wenn Franziskus betone (Nr. 23 ff. und Nr. 93 ff.), dass es sich bei der natürlichen Umwelt um ein Gemeingut handle, so ergebe sich daraus die moralische Rechtfertigung, Eingriffe in das Privateigentum (etwa an fossilen Brennstoffen) zur Zwecke der Abwehr von Gefahren für das Gemeineigentum (also: der Atmosphäre) vorzunehmen. Papst Franziskus hat damit einen zentralen Gedanken der Umweltschutzbewegung ins Bewusstsein der Menschheit gehoben. Dieser Gedanke ist zwar auch für die Kirche nicht ganz neu (schon in Gaudium et spes lesen wir: „Gott hat die Erde mit allem, was sie enthält, zum Nutzen aller Menschen und Völker bestimmt“, Nr. 69), aber er wird erstmals politisch relevant, weil in Zeiten des Klimawandels erstmals die Erde als solche zur Disposition steht.

Indem er die Folgen eines ungebremsten Klimawandels für die Biodiversität und die Wasserversorgung betone, schätze Papst Franziskus das Problem ganz richtig ein, so Edenhofer weiter, ebenso wie die Bedeutung des Einzelnen (Papst Franziskus fordert ein Ende des hemmungslosen Konsums, Nr. 224), die Rolle des Dialogs (Papst Franziskus ruft alle relevanten Agenten – Religion, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft – zum Gespräch über Lösungsstrategien auf, Nr. 163 ff.) und die Ursachen der Hemmnisse auf dem Weg zu wirksamem Umwelt- und Klimaschutz (Papst Franziskus nennt vier: Leugnung des Problems, Gleichgültigkeit, Resignation und blindes Vertrauen auf die Technik, Nr. 14).

Papst Franziskus bewertet die moderne Technik in Laudato Si nicht grundsätzlich negativ, auch, wenn er mit Nachdruck auf ihre Gefahren hinweist. In diesem Punkt waren sich beide, Uhl und Edenhofer, völlig einig. Papst Franziskus sieht die Technologie zwischen Kreativität und Macht gestellt (Nr. 102 ff.) und warnt – explizit im Anschluss an Guardini, implizit auch an Hans Jonas – vor einem deterministischen Technikkonzept als Ausdruck instrumenteller Vernunft, denn damit räumt der Mensch der Maschine gleichsam die kulturelle Priorität ein (Papst Franziskus zitiert Guardini mit den Worten, der Mensch nehme „Gebrauchsdinge und Lebensformen an, wie sie ihm von der rationalen Planung und den genormten Maschinenprodukten aufgenötigt werden“ und tue dies „im Großen und Ganzen mit dem Gefühl, so sei es vernünftig und richtig“, Nr. 203).

Theologisch wird die Diagnose dort, wo Papst Franziskus diese Schieflage des technokratischen Anthropozentrismus als Ausdruck einer gestörten Beziehung des Menschen zu Gott interpretiert, als Ergebnis des Umstands, dass der Mensch seine Geschöpflichkeit verkenne (Nr. 66) und damit nur zu einer „dürftige[n] Selbsterkenntnis in Bezug auf die eigenen Grenzen“ gelange, Nr. 105). Gott aber wolle die Menschheit im Guten vollenden (Nr. 243 ff.); Edenhofer erinnerte an das jesuitische Geschichtsverständnis bei Papst Franziskus, das im Weltlauf nicht Tragik, sondern Dramatik sieht. Zugleich betont Laudato Si die Schönheit und Harmonie einer Schöpfung voller Weisheit und Sinn (Nr. 84 ff.). Insoweit passt die Selbsteinschätzung Papst Franziskus‘, seine Enzyklika sei eine „frohe und zugleich dramatische Überlegung“ (Nr. 246).

Gleichzeitig erteilt Papst Franziskus in dieser schöpfungstheologischen Perspektive einer biozentrischen Umwelt- und Klimaethik eine Absage („Wenn der Mensch bloß für ein Wesen unter anderen gehalten wird, das aus einem Spiel des Zufalls oder einem Determinismus der Natur hervorgeht, dann ‚[droht] in den Gewissen der Menschen das Verantwortungsbewusstsein abzunehmen‘. Ein fehlgeleiteter Anthropozentrismus darf nicht notwendigerweise einem ‚Biozentrismus‘ den Vortritt lassen, denn dies würde bedeuten, ein neues Missverhältnis einzubringen, das nicht nur die Probleme nicht lösen, sondern auch andere hinzufügen würde“, Nr. 118; vgl. dazu auch Der Mensch und seine Umwelt)

Papst Franziskus betont die Bedeutung der Religion als Teil der Lösung: „Deshalb ist es nicht nötig, für eine angemessene Beziehung zur Schöpfung die soziale Dimension des Menschen abzuschwächen und ebenso wenig seine transzendente Dimension, seine Offenheit auf das göttliche ‚Du‘ hin. Denn man kann nicht eine Beziehung zur Umwelt geltend machen, die von den Beziehungen zu den anderen Menschen und zu Gott isoliert ist“ (Nr. 119).

Dass Religion auch als Teil des Problems gesehen werden kann, daran erinnert Moderator Christopher Schrader, indem er Weihbischof Uhl die Genesis vorhält, die das Herrschaftsverhältnis des Menschen zur Umwelt begründe („Gott segnete sie und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen“, Gen 1, 28). Dieses habe, so Uhl, in der Tat zu dem Missverständnis beigetragen, der Mensch – der kein Objekt der Natur ist – dürfe seine natürliche Umwelt grenzenlos ausbeuten, was jedoch ohne Rücksicht auf das ergänzende Mandat im zweiten Schöpfungsbericht geschehen sei. Dort werde der Mensch von Gott zum Hüter der Umwelt bestimmt: „Gott, der Herr, nahm also den Menschen und setzte ihn in den Garten von Eden, damit er ihn bebaue und hüte“, 2, 15). Dieser Auftrag ist auch für Papst Franziskus der Ausgangspunkt jeder nachhaltigen Umwelt- und Klimaethik: „Während ‚bebauen‘ kultivieren, pflügen oder bewirtschaften bedeutet, ist mit ‚hüten‘ schützen, beaufsichtigen, bewahren, erhalten, bewachen gemeint. Das schließt eine Beziehung verantwortlicher Wechselseitigkeit zwischen dem Menschen und der Natur ein. Jede Gemeinschaft darf von der Erde das nehmen, was sie zu ihrem Überleben braucht, hat aber auch die Pflicht, sie zu schützen und das Fortbestehen ihrer Fruchtbarkeit für die kommenden Generationen zu gewährleisten“, Nr. 67).

Damit sind wir beim Thema Verantwortung angelangt und der Kreis schließt sich. Ich hatte nämlich von Weihbischof Uhl wissen wollen, ob Papst Franziskus, wenn er in Laudato Si von Verantwortung spricht, sich der Problematik des Begriffs bewusst ist, den man gerade im Hinblick auf Fragen von Globalität und Zukunft (beides ist beim Klimawandel gegeben) Gefahr läuft zu überdehnen, so dass die resultierende Überforderung des Einzelnen gerade zur Verweigerung von Verantwortungsübernahme führt. Konkret könne er da keine Auskunft geben, meinte darauf Weihbischof Uhl und legte stattdessen noch einmal den Verantwortungsbegriff allgemein dar (analog zum Liebesgebot lassen sich die Verantwortung gegenüber Gott, gegenüber dem Nächsten und gegenüber mir selbst unterscheiden), wobei er mit der Intergenerationalität der Verantwortung gegenüber den Mitmenschen, die noch gar nicht leben, das Problem der Überforderung noch einmal bekräftigte, ohne dafür mit Franziskus Lösungsansätze anzubieten. Nach der Veranstaltung suchte ich noch mal das Gespräch, um die Frage zu motivieren und erhielt die oben zitierte Auskunft.

Da ich nicht glaube, dass Papst Franziskus dieses Problem übersieht und den Begriff der Verantwortung quasi gedankenlos als Platzhalter für „Motiv angemessener Handlungen“ in den Text einer Enzyklika einsetzt, nehme ich mir den Rat des Weihbischofs zu Herzen – und lese. Tatsächlich sieht Papst Franziskus die Verantwortung zunächst als eine Haltung, die Einzelne eingedenk konkret erfahrbarer Not annehmen sollen. So braucht es „Dramen unserer Brüder und Schwestern“ (Nr. 25), so wird Verantwortung „zugewiesen“ von denen, die hier und jetzt „die schlimmsten Folgen zu tragen haben“ (Nr. 161) oder auch die Gefahr des Aussterbens bereits existierender Arten (Nr. 42), um das Verantwortungsbewusstsein (oder auch das „Verantwortungsgefühl“, Nr. 25) zu wecken, so werden spezifische „Verantwortungsträger“ benannt, die zum Handeln aufgerufen sind (Nr. 129, Nr. 135), ganz konkret der „Politiker“ (Nr. 181) oder der „Verbraucher“ (Nr. 206) .

Wie hingegen zu begründen sein könnte, dass ganz allgemein eine Verantwortung aller für das Ganze zu übernehmen ist, soweit wir über Szenarien sprechen, die im Jahr 2100 oder später eintreten, möglicherweise und auch dann nur in räumlicher Ferne, bleibt anscheinend auch bei Papst Franziskus unausgesprochen, gleichwohl sich aus den biblischen Beispielen und der theologischen Deutung diese holistische Lesart von Verantwortung ergibt, denn in der „Verantwortung vor Gott“ ist alles eingepreist. Papst Franziskus plädiert jedenfalls für eine „Verantwortung gegenüber einer Erde, die Gott gehört“ (Nr. 68), die eine Verantwortung „für alle“ (Nr. 95) sei, also für einen maximalistischen Verantwortungsbegriff, der aufs Ganze geht. Nichts weniger als „die Menschheit“ habe „großherzig ihre schwerwiegende Verantwortung auf sich [zu nehmen]“ (Nr. 165), „wir“ haben Verantwortung „für die Welt“ (Nr. 229), ja, sogar an die Verantwortung der „Weltordnung“ (Nr. 179) appelliert Papst Franziskus. Größer – und abstrakter – geht es nicht.

Es stellt sich mit Robert Spaemann – der selbst durchaus offen ist für Umwelt- und Klimaschutz – die Frage, wer wirklich wofür welche Verantwortung tragen kann. Mit Spaemann lässt sich fragen: Vermengt Papst Franziskus hier nicht Ethik und Geschichtsphilosophie? Nein, soweit er eben daran festhält, dass die Erde „Gott gehört“. Erst, wenn wir Gott aus der Umwelt- und Klimaethik herausnehmen, ergibt sich jene uneinlösbare Hybris, die sich entweder in Resignation zeigt oder in blindem Aktionismus ihr selbstgerechtes Ventil schafft. Beides wäre falsch. Papst Franziskus zeigt, wie wichtig der Glaube auch beim Thema Umwelt- und Klimaschutz ist, das Gottvertrauen, das den Gedanken einer Hamonie und Gemeinschaft aller Geschöpfe nicht zu einer Gleichheitsidee übersteigert, wie sie dem Biozentrismus eignet: „Das bedeutet nicht, alle Lebewesen gleichzustellen und dem Menschen jenen besonderen Wert zu nehmen, der zugleich eine unermessliche Verantwortung [sic!] mit sich bringt. Es setzt ebenso wenig eine Vergötterung der Erde voraus, die uns die Berufung entziehen würde, mit ihr zusammenzuarbeiten und ihre Schwäche zu schützen. Diese Auffassungen würden letztlich neue Missverhältnisse schaffen, um der Realität zu entfliehen, die uns unmittelbar angeht.“

So wichtig der Gottesbezug ist, Verantwortung bleibt abstrakt und es droht die Gefahr der Überdehnung und damit der Entwertung des Konzepts. Denn, wo alle verantwortlich sind, ist es am Ende keiner. Just an der Stelle, wo es um das Versagen des globalen Systems geht (um die „Weltordnung“, die sich als „unfähig erweist, Verantwortungen zu übernehmen“), gibt Papst Franziskus doch noch einen Hinweis, wie sich Verantwortung im Rahmen der Umwelt- und Klimaethik motivieren und zu einer Maßgabe im Jetzt mit Wirkung für die Zukunft aktualisieren lässt: durch den Gedanken an die Familie und die Aktion vor Ort. Auf der lokalen Ebene „können sich in der Weise, wie man an das denkt, was man seinen Kindern und Enkeln hinterlässt, eine größere Verantwortlichkeit, ein starker Gemeinschaftssinn, eine besondere Fähigkeit zur Umsicht, eine großherzigere Kreativität und eine herzliche Liebe für das eigene Land bilden“ (Nr. 179). Und damit dann auch für die ganze Welt.

Stellen wir uns also vor, das Haus namens Erde, den oikos, an unsere Kinder übergeben zu sollen. Die Leifragen lauten dann: Welches Haus wünsche ich meinen Kindern? Was muss geschehen, damit die dieses Haus bewohnen können? Was bedeutet das ganz konkret für mich, was ist meine Verantwortung – hier und jetzt? In Sachen Laudato Si kann ich Ihnen in diesem Sinne nur raten: „Lesen! Selber lesen!“

(Josef Bordat)

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